Russland

Bereitschaft russischer Sportler, an den Olympischen Spielen teilzunehmen, schwindet

Knapp drei Monate vor dem Start der Olympischen Sommerspiele in Paris läuft in Russland eine emotionale Debatte darüber, ob die wenigen vom IOC zugelassenen Athleten trotz der demütigenden Bedingungen und der faktischen Ausladung durch die Pariser Oberbürgermeisterin der "Einladung" folgen sollten. Eine Zwischenbilanz.
Bereitschaft russischer Sportler, an den Olympischen Spielen teilzunehmen, schwindetQuelle: AFP © Dimitar DILKOFF / AFP

Die Zahl der russischen Sportler, die bereit sind, mit neutralem Status an den Olympischen Sommerspielen teilzunehmen, wird von Tag zu Tag geringer, meldet die russische Zeitschrift Sport-Express am Mittwoch. Zuletzt hatte das Internationale Olympische Komitee die Zahl der potenziellen Wettbewerbsteilnehmer mit "maximal 55" angegeben, qualifiziert haben sich aktuell ganze zwölf, realistische Chancen auf eine Qualifizierung und Zulassung hatten zu dem Zeitpunkt noch 36 Sportler aus Russland. Die Zahl Letzterer dürfte angesichts der sich mehrenden Absagen in den vergangenen Tagen nicht mehr aktuell sein. 

Ohnehin ist die Teilnahme von Athleten aus Russland in vielen Sportarten auch theoretisch nicht möglich. In erster Linie geht es dabei um die Mannschaftssportarten, um Synchronschwimmen und Leichtathletik, wofür ein ausnahmsloses Verbot besteht, sowie um eine Reihe anderer. Auch in den Sportarten, in denen kein absolutes Verbot gilt, ist die Teilnahme russischer Staatsbürger nur vorbehaltlich der Überprüfung durch eine eigens dafür eingerichtete Sonderkommission des IOC möglich, die den neutralen Status und die Einhaltung der stringenten Kriterien überprüfen soll.

Doch in immer mehr Sportarten zeigen Russlands Athleten dem IOC die kalte Schulter, wie sich aus einem Überblick der Zeitschrift Sport-Express ergibt.

Am Dienstag hatten Vertreter des Rudersports und des Segelsports angekündigt, dass sie nicht an der Olympiaauswahl teilnehmen werden. Den Ruderern stand vom 25. bis 28. April die europäische Qualifikationsregatta in Szeged, Ungarn, bevor, wo sie realistische Chancen hatten. Vom 19. bis 21. Mai war im schweizerischen Luzern die Teilnahme an der letzten Qualifikationsregatta geplant. Aber das Team wird nicht nach Szeged fahren. Der Trainerstab der Nationalmannschaft und die Athleten haben eine Vollversammlung abgehalten und auf dieser beschlossen, die Teilnahme an der Olympiaauswahl zu den Bedingungen des IOC und des Internationalen Ruderverbandes abzulehnen. Am 2. April wurde diese Entscheidung vom Russischen Ruderverband bestätigt.

Nach den Worten des Vorsitzenden des Ruderverbandes, Alexei Swirin, war die Diskussion während der Sitzung langwierig und hitzig, aber am Ende hat das Präsidium eine "einstimmige Entscheidung über die Unmöglichkeit der Teilnahme der Athleten der Nationalmannschaft" an den Spielen 2024 getroffen. Der Sport-Express zitiert ihn mit den Worten: 

"Die derzeitige Situation widerspricht allen sportlichen Normen und Gesetzen, die Athleten reagieren sehr empfindlich und schmerzhaft auf alle Aussagen, Erklärungen und zusätzlichen Bedingungen (des IOC). Wir bekräftigen unseren Wunsch, aus allgemeinen und rechtlichen Gründen an internationalen Wettbewerben teilzunehmen, aber wenn uns die Teilnahme unter diskriminierenden Bedingungen mit unbekannten Folgen angeboten wird und finanzielle Verpflichtungen hinzukommen, kann es keine positive Entscheidung geben."

Wenige Tage zuvor hatten die russischen Bogenschützen, die bei den Spielen in Tokio 2021 zweimal Silber gewonnen hatten, die Teilnahme an den Olympischen Spielen in Paris abgelehnt.

"Erstens haben wir Spitzensportler, die Dynamo oder ZSKA vertreten. Wir haben die gesamte Nationalmannschaft befragt. Die Mannschaft sagte, dass sie ohne Flagge und Hymne, in grauen Trikots, keine Lust hat, an der Auswahl und an den Olympischen Spielen teilzunehmen. Zweitens: Es gibt eine sportliche Komponente. Die stärksten Athleten weigerten sich, an den Spielen teilzunehmen. Es stellte sich heraus, dass es aus der Sicht des Spitzensports nicht seriös ist. Das sportliche Prinzip wird verletzt. Die besten Athleten haben sich geweigert, an den Olympischen Spielen teilzunehmen",

erklärte Wladimir Jeschew, der Vorsitzende des russischen Bogenschützenverbandes, gegenüber dem Sport-Express.

Alle Sportler, die den großen Vereinen "Dynamo" des Innenministeriums und "ZSKA" der russischen Armee angehören, sind nach den vom IOC aufgestellten Regeln von der Teilnahme an den Olympischen Spielen ohne Ausnahmemöglichkeit ausgeschlossen. Ein großer Teil des russischen Profisports ist in diesen beiden Großvereinen organisiert. 

Ähnlich sei die Situation nach den Recherchen der Zeitschrift im Segelsport. Dort wollen nur die beiden russischen Meister in der Nacra-17-Klasse, Elisaweta Sherebzowa und Michail Uschkow, die derzeit außerhalb unseres Landes leben, zur Olympiaauswahl. Auf eigene Initiative und ohne Unterstützung des Segelsportverbandes, wie es von dort heißt. 

Sergei Dschijenbajew, der Präsident des Allrussischen Segelverbandes, zu der Stimmung in seinem Verband:

"Es scheint, dass wir niemanden haben, der zu den Olympischen Spielen fahren wird. Wir wurden nirgendwo eingeladen, und wir werden auch nicht hingehen. Selbst wenn wir fahren dürfen, die Logistik funktioniert nicht wie gewohnt – wie können wir die Boote überführen? Wir werden nicht über den Nordpol oder Wladiwostok (nach Frankreich) segeln. Das Präsidium des Verbandes hat einstimmig beschlossen, dass wir ohne Flagge und Hymne nicht teilnehmen werden."

Im Boxen treten Russen bei internationalen Wettkämpfen sonst mit Flagge und Hymne an, aber die Auswahl für die Olympischen Spiele wird nicht vom internationalen Verband, sondern vom IOC organisiert – unter für Russland und Weißrussland diskriminierenden Bedingungen. Die Nachrichtenagentur TASS zitiert Tatjana Kirijenko, die Generalsekretärin des Russischen Boxverbandes, mit den Worten:

"Russische Boxer werden niemals als Neutrale zu Wettkämpfen gehen. Wir können unser Mutterland nicht verraten! Wir verurteilen niemanden, aber wir haben eine klar formulierte Position. Das ist die Meinung der gesamten Boxfamilie."

Schon zuvor hatten die Führungsetagen der russischen rhythmischen Gymnastik, des Schwimmens, des Tauchens und des Gewichthebens angekündigt, dass sie nicht gewillt sind, an internationalen Wettkämpfen und insbesondere an den Spielen in Paris unter diskriminierenden Bedingungen teilzunehmen. Es ist also schon jetzt klar, dass man in Paris, wenn überhaupt, "neutrale Russen" nur in sehr geringer Zahl wird sehen können.

Die meisten Abweichler, die offensichtlich um jeden Preis und zu jeder Bedingung nach Paris streben, sind die Tennisspieler Russlands. RIA Nowosti zählt vier Männer und vier Frauen auf, die auf gutem Weg zum Olympia-Start sind. Eine neunte Tennisspielerin könnte sich noch außerhalb der "nationalen" Quoten das Ticket für die Teilnahme buchen. 

Eine Nuance sei hier noch ungeklärt, so RIA Nowosti: Nach den Auswahlregeln muss jeder Tennisspieler im Laufe des olympischen Zyklus mindestens zwei Spiele für seine Nationalmannschaft in Mannschaftsturnieren bestritten haben, also im Davis-Cup für Männer und im Billie Jean King Cup für Frauen. Keiner der Russen erfüllt derzeit dieses Kriterium, da die russischen Nationalmannschaften seit März 2022 von den Mannschaftswettbewerben ausgeschlossen sind.

Es könnte jedoch sein, dass der Internationale Tennisverband (ITF) diese Regel auf Russen nicht anwenden wird, ist doch ihr Antritt in Paris für die IOC-Funktionäre von Vorteil: Zumindest einige Vertreter unseres Landes sollten in Paris anwesend sein, um über "die erfüllte Mission des Sports" berichten zu können und die gefahrene Linie nicht vollends zu diskreditieren.

Die Gefahr politischer Zwischenfälle sei bei Tennisspielen praktisch ausgeschlossen, unkt der Autor des Artikels auf ria.ru: Die russischen Tennisspieler reisen mit der gesamten Profi-Tour um die Welt, treffen auf dem Platz regelmäßig auf Ukrainer und fügen sich dabei jeder ukrainischen Demarche. 

Ein ähnlich niedriges Niveau an Patriotismus zeichnet sich in den Kampfsportarten ab. Hier sind die russischen Vertreter in allen Disziplinen vollauf dabei, sich für die Olympischen Spiele zu qualifizieren. Letztes Jahr haben die Russen bei den Europameisterschaften in Belgrad, der ersten Qualifikationsstufe, vier Olympia-Lizenzen (sie werden nicht genannt) im Freistil-Ringen gewonnen. Im griechisch-römischen Ringen haben sie bei diesem Turnier keine Lizenzen errungen, aber Michail Mamiaschwili, der Präsident des russischen Ringerverbandes (FSBR), erklärte gegenüber RIA Nowosti, er sei zuversichtlich, dass unsere Athleten auch in dieser Disziplin alle sechs Quotenplätze erhalten würden.

Was jedoch den Antritt bei den Olympischen Spielen selbst betrifft, so ist es nicht so einfach wie im Tennis. Es liegt auf der Hand, dass es für die Ringer, die im Gegensatz zu den meisten unserer führenden Tennisspieler in Russland leben und trainieren, schwieriger sein wird, der Agenda des IOC gerecht zu werden. So wurde dem Olympiasieger im griechisch-römischen Ringen, Mussa Jewlojew, bereits die Teilnahme an der Auswahl verweigert, weil er ein Foto von sich mit einem Plakat mit der Aufschrift "Nein zum Nazismus" zeigte. Möglicherweise wird das IOC einen Weg finden, auch anderen Ringern den neutralen Status zu verweigern.

Im Taekwondo haben Russen vier olympische Lizenzen erhalten. Auch hier liebäugelt der Verband mit der Teilnahme trotz aller Demütigungen. 

Die nächste Sportart, die noch hohe Wellen hinsichtlich der Frage der Teilnahme schlagen könnte, ist der Radsport. Russland hat vier olympische Lizenzen im Straßenradsport – jeweils zwei für Männer und Frauen. Wjatscheslaw Jekimow, der Präsident des russischen Radsportverbands (FSVR), äußerte im März, nachdem das IOC konkrete Grundsätze für die Teilnahme russischer Athleten mit neutralem Status an den Spielen in Paris bekannt gegeben hatte, die Meinung, dass es notwendig sei, zu den Olympischen Spielen zu fahren. Im Telegram-Kanal des Verbands schrieb er damals:

"Erstens unterstützen wir weiterhin die Ideale des Sports. Zweitens sind alle unsere Athleten, die für die Teilnahme qualifiziert und ausgewählt werden, Profisportler. Dies ist eine professionelle Tätigkeit für sie, und sie haben sich Respekt für ihre Arbeit verdient."

Die Meinungen darüber werden in Russland mit Sicherheit auseinandergehen. 

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