Meinung

Märchenlektüre für den Mainstream: Timothy Snyder und "Der Weg in die Unfreiheit"

Mit seinem Werk "Der Weg in die Unfreiheit" habe der US-Historiker Timothy Snyder eine "wissenschaftlich fundierte Analyse" (Spiegel Online) und sein "vielleicht wichtigstes Buch" (SWR) vorgelegt. Unser Autor Gert Ewen Ungar kommt jedoch zu einem anderen Schluss.
Märchenlektüre für den Mainstream: Timothy Snyder und "Der Weg in die Unfreiheit"Quelle: AFP © AFP

von Gert Ewen Ungar

Um es vorwegzunehmen: Will man größtmöglichen Gewinn aus der Lektüre von Snyders "Der Weg in die Unfreiheit" ziehen, sollte man es als Persiflage auf wissenschaftliche Arbeiten lesen. Dann ist es wenigstens komisch. Streckenweise schreiend komisch. Liest man es als das, was es angeblich sein möchte, nämlich als Versuch, aktuelle Vorgänge unmittelbar historisch einzuordnen, ist es ein berührendes Zeugnis peinlichen Scheiterns.

Man kann es natürlich auch als pseudowissenschaftliche Quelle und Argumentationshilfe für transatlantische Thinktanks und der westlichen Allianz verpflichteten Politiker lesen. Unter diesem Gesichtspunkt ist es sicherlich gelungen, und genau dafür ist es wohl auch geschrieben worden. Es ist ein Werk der Gegenaufklärung, das sich den Mantel aufgeklärter Wisschenschaft umgehängt hat. Unter der offensichtlichen tendenziösen Absicht leidet der Erkenntnisgewinn erheblich.

"Der Weg in die Unfreiheit" ist, man muss das ganz deutlich sagen, kein wissenschaftliches Buch. Es ist esoterisch, es ist eine Persiflage, es sabotiert in seiner Undifferenziertheit die wissenschaftliche Form. Vor allem aber ist es eine pseudo-argumentative Handreichung zur antirussischen Agitation.

In seinem Buch widmet sich Snyder Russland, der Europäischen Union, der Ukraine und den USA. Im Falle von Russland ist das Verb "widmen" allerdings falsch gesetzt. Er nimmt sich Russland vor, zur Brust. Er zerfetzt es, reißt es in Stücke, wütend und unsachlich.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion lösten sich mit ihr auch ihre ideologischen Vorbehalte auf. Mit anderen Worten, die Perspektive änderte sich. Autoren, die bisher kaum oder gar nicht gelesen wurden, konnten plötzlich neu entdeckt werden. Das gilt unter anderem auch für Iwan Iljin, einen russischen Philosophen, Gegner der Revolution und Anhänger des Feudalismus, der zu Beginn der Dreißigerjahre des vergangenen Jahrhunderts in Berlin lebte, sich wohl auch dem Faschismus andiente, nach seiner Verhaftung 1934 aber in die Schweiz emigrierte. Iljin vertrat die Idee eines eurasischen Kontinents.

Iljin erfreute sich in den vergangenen Jahren einer kleinen Renaissance in Russland. Der an der staatlichen Moskauer Universität unterrichtende Philosoph und Politologe Alexander Dugin bezog sich auf ihn, in der russischen Wikipedia werden Wladimir Putin drei Iljin-Zitate nachgewiesen.

Da hat der russische Präsident nach Snyder natürlich den Falschen zitiert, denn er befindet sich in schlechter Gesellschaft. Dugin ist ein Philosoph, der im Westen zwar völlig zu Unrecht aber dafür mit aller Kraft dämonisiert wird. Er ist ein interessanter Denker, der die Idee des Liberalismus und Individualismus ablehnt, dafür aber die Idee eines einheitlichen Kulturraumes "Eurasien" vertritt. Dafür wurde er von den Vertretern des Liberalismus unmittelbar mit dem Attribut "Faschist" belegt. Das ist Dugin mit Sicherheit nicht. Die eurasische Idee gibt es unterlegt mit unterschiedlichen Ideen, eine konservative Variante davon protegiert Iljin und in dessen Sinne auch Dugin. Und diesen Iljin zitiert Putin nachweislich mehrmals. Snyder nimmt das als Anlass zur finalen Einordnung des politischen Russlands unter Putin in die Nähe des Faschismus.

Nun zitiert Putin freilich auch andere, Immanuel Kant beispielsweise, der ihm so am Herzen liegt, dass er das Kant-Haus in Kaliningrad aus der Präsidenten-Reserve restaurieren lässt, aber das zählt nicht. Snyder macht aus Putin in dieser sehr stark verkürzten Indizienkette einen dem Faschismus nahestehenden Politiker, der das Oligarchentum und die Selbstbereicherung der Plutokratie in seinem Land fördert und im Gegenzug Freiheit als Ausdruck von Individualität unterdrückt.

Das geht zwar an den Fakten völlig vorbei, denn unter Putin wurde die Macht der Oligarchen beschnitten, die Entwicklung der Neunziger Jahre mit sinkender Lebenserwartung und massiver Korruption wurde eingedämmt und große Antikorruptionsprogramme aufgelegt, und die individuellen Freiräume in der russischen Gesellschaft sind groß. Doch wozu sich mit Fakten aufhalten, wenn es doch nur um Feindbildgenese geht.

Putin hat einen Philosophen zitiert, der konservativ ist, den andere, zeitgenössische, konservative Denker ebenfalls zitieren. Das ist Snyder Legitimation genug, nun kräftig mit dem Faschismusbegriff um sich zu werfen. Snyder entwirft mit dieser absolut einseitigen Verkürzung auf einen einzigen wiederentdeckten Philosophen ein Russlandbild, das konträr zu den edlen westlichen Werten steht. "Russland", das steht nach Snyder für eine das Volk ausbeutende Kleptokratie, die ihre Macht nur dadurch erhalten kann, dass sie die öffentliche Meinung in einer Weise manipuliert, dass die Bürger sich um die Gesundheit des russischen Volkskörpers sorgen, der vermeintlich von außen, vom Westen bedroht wird. So werden sie dazu gebracht, jede Veränderung, jede Reform abzulehnen. Das ist Snyders zentrale These.

Snyders imaginäre Anti-Schwulen-Kampagne

Um diese These zu belegen, unternimmt Snyder einen wilden Ritt durch die allerjüngste Geschichte, streift dabei alle möglichen Themen, aus denen er mittels kruder Psychologie seine Belege und Beweise generiert. So schreibt er beispielsweise im Hinblick auf die Einführung des Gesetzes gegen homosexuelle Propaganda aus dem Jahr 2013:

Zweck der Anti-Schwulen-Kampagne war, die Forderung nach Demokratie in eine nebulöse Bedrohung russischer Unschuld umzuschreiben: Wahlen = Westen = Homosexualität.

Nun hat es in Russland nie eine "Anti-Schwulen-Kampagne" gegeben. Snyder meint hier die Erweiterung des russischen Jugendschutzgesetzes, das es staatlichen Stellen verbietet, gegenüber Minderjährigen öffentlich positiv über gleichgeschlechtliche Lebensweisen zu sprechen. Man kann darüber diskutieren, ob das sinnvoll ist, aber eine Anti-Schwulen-Kampagne ist es nicht, schließlich verbietet das Jugendschutzgesetz Homosexualität nicht und erklärt Schwule auch nicht zu Freiwild, wie das in westlichen Medien und von westlichen LGBT-Organisationen immer wieder behauptet wird. Homosexuelle genießen in Russland nach wie vor alle Rechte.

Snyder schreibt dem Umgang mit Homosexualität und der Genderfrage eine unglaubliche Bedeutung zu. Russlands geopolitische Positionierung drehe sich nahezu ausschließlich darum, behauptet er. Alle Probleme würde Russland auf diese Fragen reduzieren und diese benutzen, um von inneren Problemen abzulenken. Diese verschrobene Sicht auf russische Innenpolitik gipfelt dann in Sätzen wie:

Bei selbstverschuldeten Katastrophen (…) findet ein bestimmter Typus Mann immer eine Möglichkeit, einer Frau die Schuld zuzuschieben. In Wladimir Putins Fall war diese Frau Hillary Clinton.

Weiter schreibt er: "Wenn der Kreml im ersten Schritt die demokratische Opposition mit globaler Homosexualität in Zusammenhang brachte, so war der zweite Schritt die Behauptung, die Protestierenden arbeiteten im Auftrag einer ausländischen Macht, deren höchster Diplomat weiblich war." Gemeint ist wiederum Hillary Clinton.

Man möchte bei solchen Sätzen in Lachen ausbrechen, wäre es nicht so unglaublich traurig, was hier passiert. Snyder instrumentalisiert die Mittel des wissenschaftlichen Diskurses, um seinen aufklärerischen Zweck zu sabotieren. Dies ist denn auch der eigentliche rote Faden des Buchs. Das Buch ist eine Sabotage des Bemühens um Aufklärung und Wahrhaftigkeit.

Ukraine, der Maidan und die Krim: Einseitiges Zerrbild statt fundierte Analyse

Wenn Snyder dann auf die Ukraine zu sprechen kommt, wird dies besonders deutlich. Plötzlich präsentiert er uns eine gute Ukraine, in der die Menschen ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen wollen und gegen ein korruptes, von Russland aus unterstütztes und künstlich am Leben gehaltenes Regime opponieren. Sie fordern nur ihr Recht auf Selbstbestimmung, sie begründen auf dem Maidan eine Kultur des Schenkens, in der jeder zum Bruder des anderen wird. Gegenseitige Hilfe, Solidarität und Brüderlichkeit entäußern sich plötzlich und spontan als die stärkste Waffe eines geschundenen Volkes gegen russisches Autokratentum und deren Politik der Unterdrückung. Es ist abgrundtiefer Kitsch, den Snyder hier präsentiert. Das hat mit den Vorgängen auf dem Maidan und dem, was danach kam, absolut nichts zu tun.

Um zu dieser Beschreibung kitschigen Revolutions-Idylls zu kommen, ist er gezwungen, Dinge wegzulassen. Ganz vieles wegzulassen. Im Grunde muss er alles Wesentliche weglassen. Dass aus dem Westen, insbesondere aus den USA, viel Geld in die Destabilisierung der Ukraine geflossen ist, dass sich auf dem Maidan ausländische Politiker gleichsam die Klinke in die Hand gegeben haben, all das lässt er einfach weg. Die Umtriebe der Neonazis redet er klein. Alles völlig unerheblich.

Dabei muss man es sich umgekehrt vorstellen, um den Skandal des Maidan zu verstehen: Bei Protesten gegen die im Ausland "Merkel-Regime" genannte Bundesregierung unterstützen der russische und der chinesische Außenminister sowie die Botschafter zahlreicher anderer Länder wie Iran und Syrien die Demonstranten, drücken vor Ort Hände und ermuntern zum Weitermachen, drängen Merkel zum Rücktritt, diktieren ihr das weitere Vorgehen in die Feder und wetteifern um die Besetzung der frei werdenden Posten mit den dem jeweiligen Land ergebensten Politikern. Das ist in der Ukraine passiert. Mit Demokratiebewegung und Kultur des Schenkens hat das alles herzlich wenig zu tun.

Dass die Aufklärung der Schüsse auf dem Maidan stockt, die das Chaos verursacht haben, in dem der Putsch möglich wurde, daran trägt nach Snyder Russland irgendeine nicht genauer genannte Schuld. Eine absurde gedankliche Volte. Dass die aktuelle ukrainische Regierung die Aufklärung systematisch hintertreibt, verschweigt Snyder völlig.

Auch hinsichtlich des Bürgerkriegs in der Ostukraine ist das Vorgehen Snyders wissenschaftlich unlauter. Für ihn sind die Bürger von Donezk und Lugansk Geiseln des russischen Militärs. Russland bombardiert die Republiken, um die Bewohner dort in Angst zu halten, damit sie weiter zu Russland stehen und sich gegen die Ukraine wenden. Steile These.

Um zu dieser abstrusen These zu kommen, muss Snyder wichtige Quellen verschweigen. Die Begriffe OSZE oder die von der OSZE in der Ukraine durchgeführte Special Monitoring Mission sucht man im Text vergebens. Dabei ist diese Mission mit ihren zahlreichen Mitarbeitern vor Ort immer noch die maßgebende Quelle, wenn es um die Kampfhandlungen in der Ostukraine geht. Bei Snyder fällt das einfach unter den Tisch. Gibt es bei ihm einfach nicht. Dafür aber ganz viele russische Truppen, die in der wirklichen Welt nie von einer wirklichen OSZE-Beobachtermission gesichtet wurden. Aber solche Fakten würden nur irritieren und den Leser verwirren, sie würden das Ganze unnötig verkomplizieren, weshalb es zugunsten eines ganz einfachen Weltbilds weggelassen wird. Die Russen sind die Bösen, wir die Guten.

Wissenschaftliche Standards ignoriert

Von ähnlicher Einseitigkeit ist natürlich auch die Beschreibung der Entwicklung auf der Krim geprägt. Dort fand, so erfahren wir, die Farce eines Referendums statt, an der gerade mal 30 Prozent der wahlberechtigten Krimbewohner teilgenommen hätten. Die Quelle, die dafür angegeben wird, ist die Kyiv Post. Dass eine ukrainische Zeitung so etwas publiziert, verwundert nicht. Als zweite Quelle für die Behauptung listet Snyder dann noch gazeta.ru auf, eine der großen russischen Nachrichtenplattformen.

Snyder macht es einem nicht leicht bei der Überprüfung insbesondere seiner russischsprachigen Quellen. Er benutzt in seinem Anmerkungsapparat eine vereinfachte Transkription aus dem Kyrillischen. Auch in der E-Book-Ausgabe fehlen direkte Links zu den Quellen. Man darf dann die vereinfachte Transkription ins Kyrillische rückübertragen. Im Falle von gazeta.ru gelangt man dann zum archivierten Live-Ticker zum Krim-Referendum. Da gibt es seitenlang Informationen, nur dass die Wahlbeteiligung bei nur 30 Prozent gelegen haben soll, diese Information findet sich dort nicht.

Auch hinsichtlich der zahlreichen Zitate, die Putin in den Mund gelegt werden, werden einer Überprüfung ebenfalls erhebliche Hürden in den Weg gelegt. Die vermeintlichen Zitate sind auf Deutsch. Die Quellenangaben verweisen unter anderem auf die Mitschriften von mehrstündigen Fernsehsendungen, in denen Putin den Zuschauern Fragen zur aktuellen Politik beantwortet. Da kann man sich dann ausdenken, was er wohl im russischen Original gesagt haben mag, und danach die Seite durchsuchen. Schwierig. Der gesamte Anmerkungsapparat entspricht nicht annähernd wissenschaftlichen Standards und dient eher der Verschleierung als der Transparenz und der Überprüfbarkeit. Wissenschaftsesoterik eben.

Der Spiegel ist in seiner Besprechung des Buches von genau diesem Anmerkungsapparat allerdings überaus begeistert. Qualitätsjournalisten sollten auch dann, wenn ihnen die Kernaussagen in den transatlantischen Kram passen, doch noch mal genauer hinschauen. Zumal dann, wenn es so ganz glatt runtergeht wie in "Der Weg in die Unfreiheit". Es handelt sich hier nämlich um gesteigerten Unsinn.

Ansonsten lässt sich festhalten: Die EU ist ein grandioses Projekt, dem keine Fehler unterlaufen, das allerdings von Putin bedroht wird. Die USA sind im Kern großartig. Friedliebend, demokratisch und frei. Doch Putin hat jetzt mit zahlreichen Tricks die amerikanischen Wähler gezwungen, Trump zum Präsidenten zu wählen, der das alles bedroht.

Selbstkritik am neoliberalen Modell, das westlichen Gesellschaften unter enormen Druck gebracht hat, sucht man im Buch vergebens. Warum auch? Es ist doch so viel einfacher, alle Schuld am Zerfall einer fremden Macht zuzuschreiben. "Putin war's" ist Snyders Analyse praktisch jeden Problems.

Snyder ist übrigens Mitglied im US-amerikanischen Think Tank "Council of Foreign Relations". Aber das verwundert jetzt vermutlich niemanden mehr. Er gehört zu denjenigen, die Gegenaufklärung mit dem Ziel betreiben, der Gesellschaft den Weg in voraufklärerische Zeiten zu weisen. Sein Buch "Der Weg in die Unfreiheit" ist hierfür ein Beleg.

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