Meinung

Ein Loch ist im Eimer ... wozu dient das Datenleak in den USA?

Anfangs wurde versucht, das alles wieder den bösen Russen in die Schuhe zu schieben oder die Papiere zu Fälschungen zu erklären. Aber inzwischen ist klar: Sie sind echt, und stammen zumindest zum Teil aus dem Pentagon. Aber die richtigen Fragen dazu stellen bisher nur wenige.
Ein Loch ist im Eimer ... wozu dient das Datenleak in den USA?Quelle: www.globallookpress.com © CNP/AdMedia

Von Dagmar Henn

Die deutschen Medien greifen das Thema der in den USA geleakten Dokumente ungern auf und mühen sich, unter Verweis ausgerechnet auf Bellingcat, deren Echtheit anzuzweifeln. Wobei Bellingcat ausgerechnet bezogen auf die Verlustzahlen behauptet, an dieser Stelle seien die Dokumente manipuliert – um die Behauptung zu retten, bei den Kämpfen in der Ukraine hätte die russische Armee höhere Verluste als die ukrainische erlitten.

Nun ist es nicht so einfach, dass diese Papiere die Wahrheit konstatieren, während die öffentlich verbreiteten Informationen falsch sind. Die Dokumente sind eine erstaunliche Mischung aus glaubwürdigen Zahlen und völligem Unfug. Unter anderem findet sich darin auch die Behauptung, die der britische Verteidigungsminister vor einiger Zeit aufgestellt hatte, 95 Prozent der russischen Armee stünden in der Ukraine.

Die meisten US-Medien gehen davon aus, dass die Dokumente echt sind, wenn auch nicht ganz frisch. Es ist eine wüste Mischung zu ganz unterschiedlichen Themen, und die Inhalte haben bereits vielerorts zu Verärgerung geführt. Die südkoreanische Regierung war nicht amüsiert darüber, ihre interne Debatte zu der Frage, ob sie Granaten an die Ukraine liefert oder nicht, als Abhördaten wiederzufinden. Und auch der Mossad war nicht erheitert über die Aussage, er habe die Proteste gegen Netanjahu befeuert. Aber es ist unverkennbar, auch diese Instanzen gehen davon aus, dass es sich um reale Dokumente handelt.

Unangenehm sind selbstverständlich Informationen wie jene, dass der Ukraine die Raketen für die S-300 Luftabwehr ausgehen. Man sagt das im Westen nicht gern, auch wenn der ukrainische Verteidigungsminister erst vergangene Woche nach Griechenland flog, um dort Raketen zu erbetteln, was die Griechen mit Verweis auf die Bedrohung durch die Türkei zurückgewiesen haben. Die Russen jedenfalls brauchen keinen Leak, um darüber informiert zu sein; sie beobachten schlicht, welche Reaktion auf ihre Raketenangriffe erfolgt. Und hatten schon vor diesem Leak die Konsequenz daraus gezogen und den Einsatz der Luftwaffe insbesondere in Awdejewka ausgeweitet.

Die Dokumente selbst weisen darauf hin, dass derjenige, der sie veröffentlicht hat, in den USA sitzen muss. Einige der Papiere tragen nicht nur die Kennzeichnung "secret" oder "top secret", sondern auch "noforn". Das übersetzt sich mit "keine Ausländer", und bedeutet, dass diese Informationen auch mit den Verbündeten nicht geteilt werden.

Nach einem Artikel von CNN stammen einige dieser Dokumente eindeutig von den Joint Chiefs of Staff im Pentagon. Wie andere US-Medien auch, beschäftigt sich CNN vor allem mit der Frage, wer die Papiere veröffentlicht haben könnte. Das Ereignis wird als Gefährdung der nationalen Sicherheit gelesen, und die Jagd ist eröffnet. Ntv lässt sich ausführlich darüber aus, es müsse sich um einen "Maulwurf" handeln. Ein Maulwurf wäre allerdings ein Mitarbeiter eines fremden Nachrichtendienstes; deren Art ist es im Allgemeinen aber eher nicht, ihre Daten übers Internet zu teilen. Womit sich indes die meisten westlichen Medien nicht befassen, ist die Frage: Warum wurden diese Dokumente veröffentlicht?

Dabei ist das eigentlich der alles entscheidende Punkt. Und er verweist zurück auf andere Dokumente, ganz und gar nicht geheime, wie jenes Strategiepapier der RAND-Corporation, das bereits vor Monaten die Möglichkeiten eines Rückzugs vom Projekt Ukraine durchspielte. Dass ein solches Papier erstellt wurde, war ein deutlicher Hinweis darauf, dass innerhalb der US-Regierung ein Dissens besteht, wie mit diesem Krieg, den man nun einmal angefangen hat, weiter verfahren werden soll. Die realen Daten dürften in vielen Punkten noch weit unangenehmer aussehen als die geleakten, aber jene Teile aus Militär und Nachrichtendiensten, die längst keine Erfolgsaussichten mehr sehen, konnten sich nicht durchsetzen.

Ray McGovern, der selbst viele Jahre für die CIA gearbeitet hatte, diskutierte diese Frage gestern mit Judge Napolitano, und zog eine interessante Parallele zum Vietnamkrieg, dessen Ende letztlich auch auf Leaks zurückzuführen war. Er verwies dabei auf das Jahr 1967. Damals hatte der US-General Westmoreland zum einen dem Kongress gegenüber eine viel zu niedrige Schätzung der Zahl südvietnamesischer Auständischer angegeben – 300.000 statt 600.000 – und die realistische Schätzung der CIA unterdrückt. Zum anderen hatte er, ohne den Kongress einzubeziehen, den damaligen US-Präsidenten Johnson um 206.000 zusätzliche Soldaten gebeten, um den Krieg nach Kambodscha, Laos, Nordvietnam und bis nach China auszuweiten. "Das wurde dem Kongress nicht gesagt, es war alles sehr geheim," erzählt McGovern. "Rate mal, was passierte? Jemand hat die Zahl geleakt. Der Leak kam am 10. März 1968. Er besagte: Westmoreland will 206.000 zusätzliche Truppen in Südvietnam, und das sorgt für Uneinigkeit an der Spitze des Pentagons."

Einige Tage später veröffentlichte Daniel Ellsberg dann die ursprünglichen Schätzungen der CIA. Wodurch klar wurde, dass Westmoreland den Kongress belogen hatte. In der Konsequenz trat Johnson nicht mehr zur Wiederwahl an, und Stück für Stück wurde mit den Pentagon-Papers dann aufgedeckt, wie die USA sich in diesen Krieg hineingerobbt hatten.

Der wirklich spannende Punkt wird jetzt sein, ob die US-Öffentlichkeit auf die Tatsache reagiert, in vielen Punkten belogen worden zu sein. Oder ob sie sich davon mit dem Gerede über eine gefährliche Sicherheitslücke ablenken lässt. Das vermutlich Gefährlichste sind die erwähnten Informationen über Abhörmaßnahmen; aber das ist im Grunde seit den Enthüllungen von Edward Snowden nichts Neues mehr; nur die betroffenen Regierungen können eine Zeit lang nicht mehr so tun, als wäre da nichts.

Auch, wenn sich erst noch herausstellen muss, ob diese Veröffentlichung politische Wirkung entfaltet, und die vergangenen Jahre keinen Anlass zu allzu großem Optimismus in dieser Hinsicht geben – die Tatsache, dass solche Leaks nach wie vor stattfinden, ist bereits bemerkenswert. Man muss den Leaker nicht gleich zum amerikanischen Helden erklären, wie Judge Napolitano das tat; aber es gibt in den USA, selbst im Regierungsapparat, noch Personen, die bereit sind, dem Irrsinn der Neocons entgegenzutreten und dafür auch persönliche Risiken einzugehen. Eine Charaktereigenschaft, die in Europa noch seltener ist als in den Vereinigten Staaten. Sonst hätte sich längst jemand gefunden, der die Daten über die Anschläge auf Nord Stream veröffentlicht hätte.

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