Meinung

Karin Kneissl: Verlogene Diplomatie erreichte das Gegenteil von Vermittlung

Hätte sich das russische Eingreifen in der Ukraine abwenden lassen? Welche Angebote brachten die westlichen Staats- und Regierungschefs mit in den Kreml? Am Ende blieb es bei einer Serie von Fototerminen, hatte aber nichts mit Diplomatie zu tun: der Besuchsreigen vor einem Jahr in Moskau.
Karin Kneissl: Verlogene Diplomatie erreichte das Gegenteil von VermittlungQuelle: www.globallookpress.com © Kay Nietfeld/dpa

Von Dr. Karin Kneissl

Im Rückblick war stets von den westlichen diplomatischen Anstrengungen kurz vor dem 24. Februar, als russische Truppen in der Ukraine einmarschierten, die Rede. Doch die vielen Termine, ob beim russischen Außenminister Sergei Lawrow oder bei Präsident Wladimir Putin, waren zum Scheitern verurteilt. Weder Bundeskanzler Olaf Scholz noch der französische Präsident Emmanuel Macron, die am Morgen des 22. Februar noch trilaterale Gespräche mit Russland ankündigten, eigneten sich als Vermittler, um die russischen Bedingungen vom 18. Dezember, in denen es um die gesamteuropäische Sicherheit ging, auf eine diplomatische Verhandlungsebene zu bringen.

Und dies aus mehreren Gründen:

  1. Aus russischer Sicht ging es in erster Linie um Sicherheitsgarantien – Stichwort NATO-Beitritt der Ukraine, wie dieser seit 2008 betrieben wurde – und erst in zweiter Linie um Territorialfragen. An der brisanten Frage der fortgesetzten NATO-Osterweiterung manövrierten sämtliche Gäste in Moskau vorbei. Der Fokus war die territoriale Integrität der Ukraine, und damit wurde die Krim-Frage in den hinlänglich bekannten Gesprächsnotizen vorgebracht.
  2. Letztere, im Englischen als "talking points" bezeichnet, wurden sowohl in den politischen Gesprächen hinter verschlossenen Türen als auch bei den Pressekonferenzen gleichsam wiedergekäut, ohne dass auch nur ein westlicher Regierungsvertreter neue Ideen für die russischen Forderungen vorlegte. Lawrow fasste dieses Patt nach dem Treffen mit seiner damaligen britischen Amtskollegin Liz Truss so zusammen: Frau Truss spricht in Tweets.
  3. Das Kriegsgeschehen in der Ostukraine seit 2014 und der schwierige Alltag der Menschen interessierte kaum die Staatengemeinschaft. Einzig Ungarn verwies in den EU-Räten konsequent auf die Lage der Minderheiten und die Repressionen durch Kiew. Der Beobachter-Mission der OSZE, der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, fehlte es an kluger Führung. Die teils unlesbaren Berichte zirkulierten kaum in den Staatskanzleien.
  4. Vertrauen lässt sich nicht in 30 Minuten und nachfolgender Pressekonferenz aufbauen. Diese Termine waren vor allem ein Fotospektakel, ein Monolog reihte sich an den nächsten. Von einer Konsenssuche war keine Spur.
  5. Das russische Misstrauen sollte rund zehn Monate später durch die Aussagen der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel bestätigt werden.

Merkels Offenbarungseid zu den Abkommen von Minsk

Vor einigen Tagen fiel nach anderen Prominenten auch Merkel auf den Telefonstreich der russischen Satiriker Wowan und Lexus herein. Indem sie ihren Gesprächspartner am Telefon für den ehemaligen ukrainischen Präsidenten Petro Poroschenko hielt, gab die erfahrene Altkanzlerin noch großzügiger Einsichten preis, als sie dies bereits in ihrem Interview mit Die Zeit getan hatte. Die Minsker Vereinbarungen, die im Sommer 2014 zwecks diplomatischer Lösung der Ukraine-Krise verhandelt wurden, waren in erster Linie als Zeitgewinn für Kiew geplant.

Diese Aussage hatte in Moskau im Dezember für große Bestürzung gesorgt, da man sich damit im tiefen Misstrauen und in der Richtigkeit für die militärische Option bestätigt fühlte. Bezeichnenderweise wurde die Bedeutung der Merkel-Zitate weder in Deutschland noch auf EU-Ebene begriffen. Eine mediale Auseinandersetzung fand ebenso wenig statt.

Allein der ehemalige deutsche EU-Kommissar und Minister Günter Verheugen diagnostizierte die Schwere dieser Aussagen in einem Interview mit der Berliner Zeitung, indem er meinte, dass Deutschland und Frankreich auf lange Sicht wohl nicht mehr als Vermittler infrage kommen.

Als ich im Dezember kurz nach der Veröffentlichung des Merkel-Interviews um meine Sicht gebeten wurde, verwies ich auf den großen Schaden, den Merkel der Diplomatie insgesamt zugefügt hatte. In einem Verhandlungsprozess geht es auch um das kluge Verwalten einer Pattsituation, falls derart eine Eskalation verhindert werden kann. Doch kann ein solcher Zeitgewinn niemals nur einer Seite nützen, um zum Beispiel aufzurüsten. Zeit ist nur zu schinden, um Ideen zu prüfen und derart die Konfliktparteien für einen neuen Zugang zu gewinnen.

Offenbar wurde aber seitens der Staatenvertreter des sogenannten Normandie-Formats, die die Minsker Vereinbarungen entworfen hatten, keine klare Äquidistanz gewahrt. Seit 2014 hatten wir in sämtlichen Gremien und in unseren Treffen mit Russland wie im Ritual stets ein Bekenntnis zu diesen Papieren abgegeben, ohne uns aber ernsthaft mit der Realität der Menschen in der Ostukraine zu befassen. Die Aussagen reduzierten sich immer wieder auf Gesprächsnotizen. Ernsthafte Gespräche mit den Betroffenen fehlten, um die Lebensbedingungen der Menschen in der Ostukraine ernsthaft zu verbessern.

Vom Handwerk und der Kunst der Diplomatie

Alle Kunst kommt von solidem Handwerk – diese Weisheit gilt auch für den diplomatischen Berufsstand. Die hohe Kunst der Verhandlungsführung in aussichtslosen Situationen ist die hohe Disziplin, die von Zeitgenossen kaum mehr erreicht wird. Denn das wesentliche Attribut der diplomatischen Arbeit, die Diskretion, ist uns ebenso abhandengekommen wie die Begegnung auf Augenhöhe.

Das Handwerk scheint daher ebenso verlernt. Es geht um Konsens, um Respekt und die Nichteinmischung in innere Angelegenheit, um Blickkontakt ebenso wie ernsthafte Konversation anstatt vorgekauter Positionen. All diese handwerkliche Arbeit fehlte vor einem Jahr in Moskau.

Die Bilder, die hängen blieben, waren jene des langen Tisches, an dem Putin die Gäste empfing. Diese offensichtliche Distanz war die Metapher für den Besuchsreigen, bei dem die Regierungschefs einander im Stundentakt die Türklinke reichten. An diesem Tisch war ich zuletzt im Frühjahr 2019 damals noch als Außenministerin Österreichs gesessen, doch führten wir damals Gespräche zum Nahen Osten und redeten nicht aneinander vorbei.

Zukünftige Gespräche werden stattfinden, aber bei solchen werden kaum EU-Vertreter oder der britische Premier auftauchen. Vielmehr könnten Unterhändler aus den diplomatischen Korps der Türkei, Chinas und letztlich der USA die russischen Gesprächspartner aufsuchen. In Rotation zwischen Moskau und so mancher Kapitale weiter östlich werden meines Erachtens die Verhandlungen stattfinden. Die EU hatte ihre Chancen und hat diese mehrfach verpasst.

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Am 24. Februar kündigte der russische Präsident Wladimir Putin an, gemeinsam mit den Streitkräften der Donbass-Republiken eine militärische Spezialoperation in der Ukraine zu starten, um die dortige Bevölkerung zu schützen. Die Ziele seien, die Ukraine zu entmilitarisieren und zu entnazifizieren. Die Ukraine spricht von einem Angriffskrieg. Noch am selben Tag rief der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij im ganzen Land den Kriegszustand aus.
Der Westen verurteilte den Angriff, reagierte mit neuen Waffenlieferungen, versprach Hilfe beim Wiederaufbau und verhängte Sanktionen gegen Russland.
Auf beiden Seiten des Konfliktes sind zahlreiche Soldaten und Zivilisten getötet worden. Moskau und Kiew haben sich gegenseitig verschiedener Kriegsverbrechen beschuldigt. Tausende Ukrainer sind mittlerweile aus ihrer Heimat geflohen.