Meinung

Das Propaganda-Märchen vom "linken Mainstream" – oder: Wenn Kapitalismus-Fans mit Marx ankommen

Ob Waffenlieferungen, "Menschenhandel" für den Arbeitsmarkt oder autoritäre Bevormundung: Regierende und Medien vermarkten dies gern als "linke Vernunft". Der "Spiegel" bemüht gar Karl Marx, um "grünen Kapitalismus" zu propagieren. In Wahrheit täuschen die Herrschenden damit gezielt.
Das Propaganda-Märchen vom "linken Mainstream" – oder: Wenn Kapitalismus-Fans mit Marx ankommenQuelle: RT

Von Susan Bonath

Sie kämpften einst gegen Herrschaft und Ausbeutung, für Arbeiter- und Frauenrechte. Viele spürten ihre Ketten und schlossen sich ihnen an: Die Linken waren einmal der Stachel im Fleisch der Kapitaleigner und ihrer regierenden Lobbyisten. Die Geschichte des Industriekapitalismus ist gepflastert mit blutig niedergeschlagenen Streiks und Aufständen. Der Feind war sichtbar.

Heute, im Zeitalter des digitalisierten Monopol-Kapitalismus, ist das anders. Mit psychologisch immer raffinierterer Propaganda haben die Herrschenden ihre Widersacher erfolgreich umgarnt, manipuliert und vereinnahmt. Mehr noch: Sie verkleiden sich selbst als ihre einstigen Gegenspieler. Sie brüsten sich mit linken Ideen wie Antirassismus, Weltoffenheit, Gesundheits- und Umweltschutz, während ihre gegenteiligen Taten ein ums andere Mal die Heuchelei dahinter offenbaren.

Der Spiegel als offensichtliches Flaggschiff für die Verbreitung der Mär von einem vermeintlich "linken Mainstream" bemühte nun sogar Karl Marx und sein "Kapital", um die vermutlich in irgendwelchen Thinktanks Superreicher erdachte Vision vom "grünen Kapitalismus" zu propagieren. Die Überschrift prangt gleichermaßen als Lockvogel für "Bauchgefühl"-Linksliberale und Empörungstrigger für Rechtslibertäre über der Bezahlschranke: "Grüner und gerechter – Hatte Marx doch recht?" Klingt, als hätte der Kapital-Autor einst über Kapitalismus-Reformen nachgedacht. Das ist natürlich blanker Unsinn.

Missbrauch linker Vordenker für Herrschaftszwecke

Zunächst: Marx' "Kapital" ist ein frühes wissenschaftliches Werk über die Funktionsweise des Kapitalismus. Der Autor analysierte das System mit Blick auf die Bedingungen im 19. Jahrhundert. Seine Erkenntnisse erhellen durchaus das Verständnis für dessen sichtbare Entwicklung bis heute. Marx beschrieb zum Beispiel die systembedingte Kapital-Konzentration, also Akkumulation, und erklärte, warum dies zwangsläufig zur Bildung von Monopolen führt. Solche beherrschen heute sichtbar die Weltwirtschaft und Politik.

In vielen anderen – im Gegensatz zum "Kapital" – philosophischen Werken kritisierte Marx den Kapitalismus scharf. Er wandte sich gegen die Ausbeutung von Lohnabhängigen durch die Eigentümer großer Produktionsmittel. Den Kapitalismus reformieren, wie es der Spiegel gern hätte, wollte Marx natürlich nicht. Schon gar nicht forderte er, kapitalistischen Regierungen und Staaten mehr Macht zu geben. Seine Sicht der Dinge war anders: Der Staat in einer Klassengesellschaft ist das Machtinstrument der Herrschenden.

Der Spiegel propagiert in Wahrheit genau das, wovor Marx, später ausführlicher auch Lenin, gewarnt hatte: Die totale Verschmelzung von Monopolkapital und Politik als Folge der Akkumulation – grün eingefärbt, autoritär durchgesetzt. Verlockend klingt dabei für einige ganz sicher die Vision von "weniger Profit".

Doch zu Ende gedacht, bedeutet "weniger Profit" keineswegs die Abkehr von der Herrschaft weniger über viele. Die meiste Zeit in der Geschichte der Klassengesellschaften war Macht überhaupt nicht von Profiten abhängig. Die Grundlage für Herrschaft war immer, so sah es jedenfalls Karl Marx, das Privateigentum an Produktionsmitteln. Und eben daran wollen natürlich weder die Regierung noch der Spiegel rütteln.

Märchenstunde über den Kapitalismus

Der Spiegel suggeriert zudem: Superreiche Technokraten aus dem Silicon Valley hätten ihre Ideen von reglementierenden "Nanny-Staaten", angeblich zugunsten der Umwelt, von linken Vordenkern gemopst. Vereinfacht gesagt: Das seien irgendwie linke Ideen. Das ist natürlich eine Irreführung.

Doch so eine Lüge, "durch die Blume" in die Welt gesetzt, bringt den Herrschenden einen entscheidenden Vorteil: Das Volk hört auf, über seine grundsätzliche Lage im Kapitalismus nachzudenken, wenn es annimmt, "die Linken" stünden hinter der Agenda, die nur mehr Knechtschaft als ohnehin schon existent verspricht. Es kursiert sogar – auch in einigen Akademiker-Köpfen – das Märchen, die Idee der Technokraten vom "grünen Kapitalismus" sei sozialistischer Natur.

Wer das glaubt, der neigt dazu, einem Teil der Unterdrücker die rote Karte zu zeigen, während er dem anderen Teil von ihnen die Stange und sich selbst sogar für herrschaftskritisch hält. Dahinter steht die Mär von bösen Kapitalisten (Technokraten) und guten Kapitalisten (alle anderen). Man könnte als clevere Ideologie-Strategie der Herrschenden bezeichnen, Proteste von vornherein ins Leere zu lenken.

Demagogie für Systemkritiker und "Bauchgefühl-Linke"

Die vom Spiegel direkt und indirekt propagierten Glaubenssätze bedienen in Wahrheit rundum die Interessen der herrschenden Front aus Monopolkapital und seiner Politik. Als Wolf im Schafspelz ködert diese Front die "Bauchgefühl-Linken" als Mitstreiter und lenkt den verbliebenen Widerstand ins politisch wirre Nirwana. Die Demagogie dahinter kann man in einigen Punkten zusammenfassen:

Erstens hat die Idee vom "grünen Kapitalismus" so wenig mit Sozialismus zu tun wie mit Karl Marx oder auch nur irgendeiner linken Idee. Sie ist lediglich die Fantasie von einer Fortführung der kapitalistischen Herrschaft auf staatsmonopolistischem Niveau, angepasst an die technologisch entwickelten Produktivkräfte.

Zweitens wird suggeriert, der klassische Industriekapitalismus sei irgendwann einmal für die lohnabhängigen Massen von großem Vorteil gewesen. Das mag vielleicht für wenige Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg für das Gros der deutschen Arbeiter gegolten haben. Doch der Preis, den Milliarden Lohnabhängige in der Peripherie dafür zahlen mussten, war durchweg hoch. Den guten Kapitalismus in der Vorstellung eines idyllischen Gemüsemarktes gab es nie.

Drittens treibt die Lüge vom angeblich "linken Mainstream" sehr viele Systemkritiker in die Hände derer, die eben auch nicht für ein Ende ihrer Unterdrückung stehen, sondern ein Zurück zum klassischen Industriekapitalismus predigen. Das ist schon wegen der entwickelten Technologie gar nicht mehr möglich. Vor allem aber verhindern derlei Fantasien das Nachdenken über ein tatsächliches Ende der Ausbeutung von Mensch und Natur.

Viertens verfängt solche Demagogie bei vielen "Bauchgefühl-Linken", die Marx entweder nicht gelesen oder nicht verstanden haben. Vermutlich schmeichelt einigen die Vorstellung, linke Ideen hätten die (kapitalistische) Politik erobert und sie selbst könnten sich endlich einbringen. Letztlich machen sich die Verführten damit zu Befehlsempfängern der Mächtigen.

Monopol-Kapitalismus mit Nanny-Staat

Doch gehen wir zum Schluss auf einige Ergüsse im Spiegel-Artikel ein. Direkt unter der Überschrift heißt es:

"Der klassische Kapitalismus funktioniert nicht mehr. Aber angetrieben von immer neuen Weltkrisen und einem drohenden Klimakollaps zeichnen sich konkrete Reformideen ab: weniger Wachstum, mehr staatliche Zielvorgaben."

Dass der "klassische Kapitalismus" als Konkurrenz- und Hackordnung Wirtschaftskrisen, Kriege und Umweltkatastrophen ohne Ende produziert, ist natürlich erkennbar. Das "nicht mehr" ist zudem überflüssig, denn Armut, Hunger und soziales Elend waren immer präsent, sogar tendenziell zunehmend. Doch das vermeintlich "linksliberale" Blatt vollführt eine bemerkenswerte Biegung:

Anstatt über die wirtschaftlichen Eigentumsverhältnisse als grundlegende Ursache der Probleme nachzudenken, predigt es den Reformismus unter einem starken Staat. Letzterer soll dabei freilich das Machtinstrument der herrschenden Klasse bleiben, um die Lohnknechterei der Vielen unter der Prämisse "weniger Wachstum" zu managen.

Doch um Marx ernsthaft zu bedienen: Das Wachstum basiert auf der Marktkonkurrenz einzelner Kapitalisten. Wenn sich durch ebenjene Konkurrenz, wonach der Stärkere gewinnt, Monopole gebildet haben, verschwindet selbstverständlich die Konkurrenz. Die Herrschaft ohne Konkurrenz braucht auch kein Wachstum mehr, um an der Macht zu bleiben. Dafür reicht autoritäre Überwachungspolitik aus.

Geschickt paart der Spiegel durch den gesamten Artikel hindurch eine bezirzende Kapitalismus-Kritik (die durchaus viele Wahrheiten enthält), mit den Fantasien der superreichen Weltenlenker. Das klingt etwa so:

"Nun aber sagt er [Ray Dalio, Hedgefonds-Gründer) solche Sätze über den Kapitalismus: 'Werden gute Dinge übertrieben, drohen sie sich selbst zu zerstören. Sie müssen sich weiterentwickeln oder sterben.' Reichtum und Wohlstand würden nur noch einseitig verteilt, wer einmal arm sei, bleibe es auch, von Chancengleichheit sei kaum eine Spur. Schluss damit, fordert Dalio. Der Kapitalismus gehöre dringend und grundlegend reformiert. Sonst gehe er zugrunde, verdientermaßen."

Statt den Herrschenden selbst schieben die Autoren die Schuld für die unsehbaren gravierenden Verwerfungen einem irgendwie aus dem Ruder gelaufenen "Kapitalismus" in die Schuhe, also etwas Unangreifbarem. An der Herrschaft selbst rütteln sie natürlich nicht: Man müsse eben ein wenig reformieren, um die schlimmsten Auswirkungen etwas abzumildern. Und so geht es weiter:

"Kritik am Kapitalismus ist erst einmal nichts Neues. Doch im anbrechenden Jahr vier der Pandemie und im Jahr zwei des Ukrainekriegs gewinnt sie merklich an Wucht. Zu vieles funktioniert nicht mehr: Die Globalisierung zerbröselt und mit ihr das deutsche Wohlstandsmodell. Die Welt verschanzt sich in feindseligen Blöcken. Die Inflation lässt Arm und Reich weiter auseinander­driften. Nahezu alle Klimaziele wurden verpasst. Und die Politik kommt nicht mehr hinterher, all die immer neuen Risse im System zu kitten."

Abgesehen davon, dass bereits Lenin wusste, dass sich Staatenverbünde im zum Imperialismus herangereiften Monopol-Kapitalismus natürlich "hinter feindseligen Blöcken verschanzen" und Kriege um die Marktbeherrschung führen: Was wollen die Autoren mit der Feststellung andeuten, dass die Politik nicht mehr hinterherkomme, "all die immer neuen Risse im System zu kitten"? Das klingt förmlich wie ein Ruf nach Rundumüberwachung der Bürger durch den Staat.

Dass autoritäre Staatsformen und Kapitalismus – in welcher Form auch immer – kein Widerspruch sind, zeigt die jüngere Geschichte bis heute sehr eindrücklich. Die Autoren nehmen das Wort "autoritär" freilich nicht in den Mund. Stattdessen fabulieren sie von einer "neuen Wirtschaftsordnung", obwohl es nach ihrem Ansinnen ja beim Kapitalismus bleiben solle:

"Die Rufe nach einer neuen Wirtschaftsordnung werden inzwischen aus allen Ecken lauter, auffallend oft aus unvermuteten: Die 'Financial Times', internationales Sprachrohr der Finanzmärkte, verkündete, es sei an der Zeit, dass der Neoliberalismus von der Weltbühne abtrete."

Nun soll also doch nur der Neoliberalismus abtreten, also lediglich der marktradikale Überbau für einen "schlanken Staat", der vor allem für freie Bahn der Großkonzerne sorgt. Dies als "neue Wirtschaftsordnung" zu bezeichnen, ist aber Unsinn. Um das mit zwei extremen Beispielen zu untermauern: Kapitalismus funktionierte schließlich auch in Chile unter Pinochet und in Deutschland unter Hitler – ganz ohne Neoliberalismus, dafür mit grausamer Unterdrückung des Volkes.

Doch die Autoren versteigen sich in schönen Worten. Ein sanfterer, nachhaltiger Kapitalismus müsse her. Nur wer soll ihn entwickeln? Die Milliardäre im Silicon Valley? Und was soll dieses "sanfter und nachhaltiger" für die Bevölkerungen bedeuten? Sollen die in Zukunft zur Verfügungsmasse von Techkonzern-regierten Regierungen werden, lieblich klingend als "steuernder Staat bezeichnet? Offensichtlich:

"Ideen für eine gerechtere, grünere – und trotzdem noch marktwirtschaftliche – Ordnung gibt es inzwischen einige. Die Vorschläge für einen solchen sanfteren Kapitalismus kommen aus unterschiedlichsten ideologischen Lagern, aber gemeinsame Linien sind zu erkennen: weniger Markt, mehr steuernder Staat und weniger Wachstum auf Teufel komm heraus."

Propaganda mit Hereinfall-Potenzial für beide Seiten

Nun ist ein "sanfterer Kapitalismus" weder eine linke Idee, noch würde dadurch die Ausbeutung der Mehrheit durch wenige beendet. Zumal überhaupt nicht klar ist, für wen denn die Fantasiewelt der Mächtigen "sanfter" sein soll – vermutlich vor allem für die Monopolherren und ihre gut bezahlten Manager.

Hierfür Marx und sein "Kapital" ins Feld zu führen, ist ziemlich verlogen. Aber wahrscheinlich jubelten einige sich links fühlende (und rechts agierende) Schönsprech-Funktionäre den Agitatoren (oder Propagandisten) zu. Und wohl wetterten nicht wenige über den angeblichen "linken Mainstream", der nie existierte. Beide sind hereingefallen: auf die zielgerichtete, ideologische Propaganda der wirklich Mächtigen und ihrer Zuträger.

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