Meinung

Armutskonferenz: Staat schiebt Notleidende zunehmend an Tafeln ab

Die Nationale Armutskonferenz schlägt Alarm. Die Zahl Hilfe suchender Menschen in Notlagen nehme rasant zu, doch der Staat ziehe sich zunehmend aus der Pflicht und schiebe sie an die privaten Tafeln ab. Dies verstoße gegen Grund- und Menschenrechte.
Armutskonferenz: Staat schiebt Notleidende zunehmend an Tafeln abQuelle: www.globallookpress.com © IMAGO/Sascha Steinach

Von Susan Bonath

Die Grundsicherung in Form von Sozialhilfe und Hartz IV, ab Januar "Bürgergeld", soll Geringverdienern, Erwerbslosen und Armutsrentnern das Existenzminimum sichern. Dies nicht zuletzt, um Verelendung und damit einhergehende soziale Unruhen und Kriminalität einzudämmen. Doch die Inflation steigt schneller als die Hilfen, selbst Grundnahrungsmittel werden zum Luxus. Die Jobcenter verweisen Betroffene deshalb offenbar immer häufiger an die karitativen Tafeln – ein Bruch mit dem Sozialstaatsprinzip.

Nun schlug die Nationale Armutskonferenz (NAK), ein Zusammenschluss aus etwa zwei Dutzend deutschen Sozialverbänden, deswegen Alarm. Die Tafeln seien "kein verlängerter Arm der Jobcenter", kritisiert deren Sprecher Michael David in einer aktuellen Pressemitteilung. Er mahnt: "Der Staat darf die Existenzsicherung nicht auf spendenfinanzierte Angebote verlagern." Dies verstoße gegen das Grundgesetz.

Private Almosen statt Grundrechte

Weil die Hilfen die realen Lebenshaltungskosten nicht mehr abdeckten und es den Menschen am Notwendigen fehle, übernähmen die Tafeln zunehmend Aufgaben des Staats. Dabei könnten und dürften sie das gar nicht. Denn es handele sich nach wie vor um private, ehrenamtliche Initiativen, die auf Spenden angewiesen und vielfach längst am Limit seien. David betonte: "Tatsächlich sind Tafeln eine Maßnahme gegen Lebensmittelverschwendung." Sie könnten staatliche Sozialleistungen nicht ersetzen.

Die Bundesregierung müsse endlich die sozialen Menschenrechte in Deutschland zum Maßstab staatlicher Hilfen machen, fordert der Verband daher. Die Entlastungspakete mit Einmalzahlungen und Steuerentlastungen gingen großteils an der Lebensrealität der ärmsten zehn Prozent vorbei. Es sei zu bedenken, dass diese Menschen über keinerlei Reserven verfügten. Auch die zum 1. Januar geplante Erhöhung des Bürgergelds decke höchstens die Hälfte der durch die Inflation gestiegenen Kosten.

Der Verband schlug beispielsweise eine Sofortaufstockung der Regelsätze um 100 Euro vor. Jürgen Schneider, Interessenvertreter von Menschen mit Armutserfahrungen in der NAK-Koordination, blickte zudem kritisch zurück: Schon vor der Inflation seien die Leistungen zunehmend nicht mehr existenzsichernd gewesen. "Die beliebigen Streichungen von Kosten für Küchenuhren, Weihnachtsbäume, Meerschweinchenfutter, Speiseeis, Balkonpflanzen und viele andere Positionen haben den Regelsatz künstlich auf Kante genäht", so Schneider.

Zur Erklärung: Die Regelsätze für Hartz IV und Sozialhilfe lässt die Regierung alle fünf Jahre neu berechnen. Dabei orientiert sie sich zum einen an der Lohnentwicklung, zum anderen an der sogenannten Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) des Statistischen Bundesamtes; die letzte Erhebung stammt von 2018. Zugrunde gelegt werden die ermittelten Ausgaben der ärmsten 15 Prozent der erfassten Haushalte. Davon werden aber zahlreiche Kosten, die Betroffene angaben, wieder herausgerechnet, weil die Politik sie für überflüssig hält. Dazu gehören beispielsweise oben genannte Posten, aber auch etwa Malstifte für Kinder.

Politik spielt Arme gegeneinander aus

Schneider warnte zudem vor einem Ausspielen von Niedriglöhnern und Sozialleistungsbeziehern. Sowohl die Lohnuntergrenzen als auch die Grundsicherungsleistungen seien, gemessen am Preisniveau, viel zu niedrig. Doch anstatt die Löhne anzuheben, poche die Politik fortgesetzt auf das Lohnabstandsgebot, um die Sozialleistungen noch weiter herunterzudrücken.

Damit setze die Politik eine Armutsspirale in Gange. Denn dies führe dazu, dass Empfänger von Hartz IV, künftig Bürgergeld, in prekäre Beschäftigung zu niedrigen Löhnen gezwungen würden, sowohl durch niedrige Leistungen als auch durch zusätzliche Sanktionen. Das Existenzminimum aber sei "keine Gnade und kein Almosen, sondern ein verbrieftes, weltweit geltendes Menschenrecht".

Der CDU-Wirtschaftsrat und die AfD-Fraktion im Bundestag wollen diese Art der Erpressung mit keineswegs neuen Vorschlägen auf die Spitze treiben und Betroffene zum Arbeitsdienst verpflichten, um Grundsicherung erhalten zu können. Die Rede ist von "gemeinnütziger Arbeit". Was der Staat darunter verstehen und welche Arbeitsplätze er mit Pflichtarbeitern ersetzen könnte, bietet Raum für vielfältige Spekulationen. Für höhere Löhne dürfte diese Idee nicht sorgen, im Gegenteil.

Tafeln warnen, Politik schweigt

Die Tafeln klagen bereits seit Beginn der Corona-Maßnahmen über abnehmende Lebensmittel-Spenden bei gleichzeitig wachsendem Andrang. Mit der maßgeblich durch die Wirtschaftssanktionen der deutschen Regierung produzierten Energiekrise, verbunden mit der Preisexplosion für Nahrungsmittel spitzen sich die Engpässe in den karitativen Einrichtungen zu. Viele Tafeln nehmen daher keine Bedürftigen mehr auf.

Bereits im Juli hatte der deutsche Dachverband der Tafeln einen "dramatischen Höchststand der Armut" in Deutschland angemahnt. Im August forderte er einen Sozialgipfel, stieß damit bisher aber auf taube Ohren. Ende September startete der Verband einen weiteren Aufruf zu mehr Solidarität mit der wachsenden Zahl der Armen. Von einer politischen Reaktion darauf ist noch nichts bekannt geworden.

Anspruch auf Grundsicherung durch steigende Heizkosten

Während viele Grundnahrungsmittel inzwischen mehr als doppelt so viel kosten wie noch vor einem Jahr, explodieren die Heizkosten richtiggehend. Viele Versorgungsunternehmen und Vermieter haben die Vorauszahlungen um ein Vielfaches erhöht. Seit langem bekommen indes Hunderttausende Menschen, die auf Hartz IV angewiesen sind, nicht ihre vollständige Miete anerkannt. 2020 mussten rund 400.000 Haushalte im Schnitt 86 Euro aus dem mageren Regelsatz zuzahlen, wie eine Anfrage der Linksfraktion im Bundestag ergab. Insgesamt sparte der Bund damit fast eine halbe Milliarde Euro ein. Geändert hat sich daran bis heute nichts.

Grund sind die niedrigen Mietobergrenzen für Bedürftige, welche die Kommunen festlegen und oft nur unzureichend an die realen Bedingungen anpassen. Dazu zählen auch die Heizkosten. Sozialverbände warnten bereits davor, dass sich Jobcenter weigern könnten, stark gestiegene Abschläge zu übernehmen. Sie raten Betroffenen in diesen Fällen zu einem Widerspruch, da es sich nicht um unangemessenes Verbrauchsverhalten sondern höhere Gewalt handele. 

Sie weisen auch darauf hin, dass Menschen in schlecht bezahlten Jobs durch die steigenden Heizkosten einen Anspruch auf aufstockende Grundsicherung haben könnten. Wird das Geld zum Leben knapp, könne jeder diese Leistung vorübergehend beantragen. Im ersten halben Jahr müssten Jobcenter nach derzeitiger Rechtslage auch Wohnungen anerkennen, die zu teuer oder zu groß sind.

Auf Erwerbseinkommen gibt es Freibeträge: Die ersten 100 Euro, 20 Prozent auf weitere 900 Euro und 10 Prozent auf Einkommen, das 1.000 Euro netto übersteigt. Ein Alleinstehender mit einem Nettolohn von 1.500 Euro, dessen Warmmiete beispielsweise von 600 auf 800 Euro gestiegen ist, hätte demnach aktuell einen Anspruch auf zusätzliche Grundsicherung von knapp 80 Euro monatlich und bekäme damit insgesamt 330 Euro mehr als jemand ohne Arbeitsplatz.

Verarmung durch Sozialabbau

Laut Bundesagentur für Arbeit (BA) lebten im September rund 5,64 Millionen Menschen von Hartz IV, darunter fast 2 Millionen Kinder. Viele davon haben einen Job und stocken auf.

Vergangenes Jahr erhielten darüber hinaus weitere 1,12 Millionen Menschen Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung, mehr als doppelt so viele wie 2004. Zu den Gründen zählen Rentenkürzungen, Ausbau des Niedriglohnsektors, Abbau von Arbeitnehmerrechten und ein Wegfall einiger Krankenkassenleistungen. Ein weiterer Anstieg der Bedürftigkeit ist durch die Energiepolitik der Bundesregierung vorprogrammiert.

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