Meinung

Europa – wie die ewig Satten auf eine selbst gemachte Hungerkrise zusteuern

Die russophobe Sanktionspolitik der EU hat die Gemeinschaft von Importquellen für gleich drei Ressourcen abgeschnitten: Getreide, Dünger und das Erdgas zu deren Gewinnung. Wenn noch eine Dürre hereinbricht, bleiben die erwarteten Flüchtlingsmassen ebenso hungrig wie ihre europäischen Gastgeber.
Europa – wie die ewig Satten auf eine selbst gemachte Hungerkrise zusteuernQuelle: Legion-media.ru © Fotoarena

Von Anastassía Popówa

Dank des militärischen Sondereinsatzes in der Ukraine haben nicht nur die russischen Normalverbraucher Iwan und Olga (wie überall auf der Welt in normalen Zeiten an solchen Themen weitgehend desinteressiert), sondern die Menschen in aller Welt erfahren: Russland ist nicht bloß die sprichwörtliche Tankstelle, sondern auch Lieferant für eine ganze Vielzahl weiterer Güter – ohne die die westliche Industrie ebenso wenig überleben kann wie die Landwirtschaft. Nicht umsonst spricht der frisch wiedergewählte Präsident Frankreichs Emmanuel Macron von einer drohenden Nahrungsmittelkrise. Klarer ausgedrückt: Viele Länder sind von einer Hungersnot bedroht, die zu einer neuen Migrationswelle führen wird – einer Migrationswelle nach, wer hätte es gedacht, Europa. Es gibt Schätzungen, sie könnte zwei- bis dreimal so groß werden wie seinerzeit die syrische. Doch auch in der Alten Welt selbst wäre ein Viertel der Bevölkerung von der Hungersnot betroffen.

Die französischen Landwirte raufen sich jetzt schon die Haare: Es ist Zwischensaison und damit die Zeit, in der man Düngemittel zu Schnäppchenpreisen kaufen kann, denn sie werden weder auf der Nord- noch auf der Südhalbkugel in größeren Mengen benötigt. Doch so war es früher einmal. Denn zunächst wurden durch coronabedingte Isolationsmaßnahmen ganze Lieferketten unterbrochen – und dann auch schon die Sanktionen nachgezogen. Die feinen beige-weißen Kügelchen aus Ammoniumnitrat werden heute als weißes Gold bezeichnet; daneben gibt es auch rotes "Gold", und auch ockerfarbenes.

Die gesamte westliche Getreidelandwirtschaft sitzt wie auf einem Pulverfass, die Märkte sind in Panik, alle sind auf dringender Suche nach den drei für die Ernte wichtigsten Grunddüngern – Amid-, Ammonium- und nitrathaltige Stickstoffdünger und Flüssigstickstoff, Kalisalze und Phosphate. Und hat man auch einmal Finderglück, ist damit noch lange nicht alles getan: Einfach mal 1.200 Tonnen auf einmal bestellen wie früher? Nix da, geliefert werden lediglich kleine Partien von je 200 Tonnen, und jede hat ihren eigenen, eigens auszuhandelnden Preis. Und der Preis ist enorm hoch. Ammoniumnitrat kostete letztes Jahr 270 Euro pro Tonne – und jetzt sind es 790 Euro. Die Kosten für Flüssigstickstoff stiegen von 240 Euro auf 400 Euro pro Liter.

Selber den Stock in die Speichen geschoben

Und mit Stickstoff ist ja überhaupt alles kompliziert. Nun haben alle lernen dürfen, dass für seine Produktion in Europa russisches Erdgas benötigt wird. Das hat vielen Menschen die Augen geöffnet, wie abhängig sie von Russland sind – und das nicht nur beim Heizen ihrer Wohnungen oder im Hinblick auf die Metallurgie und sonstige Schwerindustrie. Denn auch diese Art von Energieträger und Rohstoff ist heute sehr teuer geworden, was den Preis für den Grunddünger – Stickstoff – mit sich zieht. Und ohne diesen Dünger "sinken die Erträge um 50-60 Prozent" – wohingegen mit ihm der Weizen auch noch schneller an Höhe und Masse gewinnt.

Die Komik der jetzigen Lage liegt darin, dass es in Europa ja sehr wohl genügend Anlagen zur Herstellung dieser Substanz gibt. Ein Beispiel dafür ist das riesige EuroChem-Werk in Antwerpen, Belgien. Der Konzern ist im Besitz von Russen und hat seinen Hauptsitz in der Schweiz. Nach Beginn der Sanktionshysterie überschrieb der russische Eigentümer alle seine Anteile an seine Ehefrau, eine kroatische Staatsbürgerin. Dann schieden sich die Geister in Europa: Die Deutschen kauften munter weiter bei EuroChem ein und überwiesen Geld an die Antwerpener Fabrik, während das französische Schatzamt jegliche Transaktionen untersagte und Frankreichs Bauern leer ausgehen ließ.

Bei Kaliumdüngern ist der Hauptexporteur Weißrussland. Wieder einmal schoben sich die Europäer äußerst behände selber den sprichwörtlichen Stock in die Speichen und haben die Kalisalz-Einfuhr von dort in die EU verboten. Jetzt müssen sie auf die Suche gehen und auf dem Weltmarkt nach Quellen in anderen Ländern Ausschau halten. Kali gibt es etwa in Kanada. Nach Europa müsste der Dünger von dort verschifft werden, was zusätzliche Kosten verursacht. Doch vor allem stehen bei den Kanadiern bereits die US- und die brasilianischen Landwirte Schlange – und daher ist es überhaupt nicht gesagt, dass ihre lieben europäischen Freunde und Partner von dort etwas abbekommen können.

Die "alternativen" Wege aus der Krise: Theoretisch möglich, kurzfristig nicht verfügbar

Um es in Zahlen auszudrücken, hier ein Beispiel aus dem französischen Departement Meuse. Céderic Benoît, Landwirt in dritter Generation, gibt den Großteil seiner Betriebsmittel gerade für Dünger aus. Er baut Gerste an. Der Preis pro Tonne ist um 600 Euro gestiegen. Für die Düngung seiner 160 Hektar Ackerland muss Monsieur Benoît 30.000 Euro mehr ausgeben als bisher. Daher sind die Kosten für sein Getreide gestiegen – und Getreidepreise ziehen auch die Preise für Brot und andere Lebensmittel nach. Auf Düngemittel kann man auch verzichten – doch dafür muss zuerst das gesamte landwirtschaftliche System umgestellt und allgegenwärtig die Viehzucht wiedereingeführt werden. Kurzfristig ist dies nicht möglich, aber die Menschen suchen bereits nach weiteren Möglichkeiten in der alternativen Landbewirtschaftung.

Eine davon ist zum Beispiel, das Feld ruhen zu lassen und es mit Pflanzen zu besäen, die den Boden mit Stickstoff sättigen. Aber hier läuft es darauf hinaus, dass man statt eines plötzlich zwei Felder haben muss – und eines davon muss ein ganzes Jahr lang brachliegen, damit der Boden sich erholt. Die Ernte, die Sie auf zwei Feldern hätten einfahren können, wird also auf jeden Fall auf ein Feld reduziert. Aber auch das nur, wenn dort alles wächst und gedeiht wie es soll. Dadurch wird das Einkommen des Landwirtschaftsbetriebes reduziert, und er kann weniger Menschen ernähren. Da wird auch vorgeschlagen, irgendwelche Bakterien zu versprühen, die Stickstoff aus der Luft absorbieren [etwa Knöllchenbakterien, wie sie mit den oben angedeuteten Bohnengewächsen in Symbiose leben – Anm. d. Red.].

Im Allgemeinen gibt es viele verschiedene Ideen – doch eines haben sie gemeinsam: Man darf von ihnen nicht schon heute irgendwelche praktischen Auswirkungen erwarten. Hingegen ist der akute Mangel schon jetzt zu spüren.

Getreideeinfuhr – eine Alternative?

Einige Landwirte denken nun darüber nach, auf Kulturen umzusteigen, die weniger Dünger benötigen: Sie sind beispielsweise bereit, Sonnenblumen anstelle von Weizen anzubauen. Schön und gut, Arbeitsplätze und ihre Gewinne könnten sie damit sichern. Aber woher soll dann das Mehl für das Brot kommen? Nach Europa importiert werden? Auch eine Idee – doch die beiden wichtigsten Getreideerzeugerländer sind Russland und die Ukraine. Das erste Land verkauft nicht, das zweitgenannte wird gerade mit Waffen überschüttet – von den Europäern, die im Gegenzug verzweifelt versuchen, alle dort gelagerten Getreidevorräte an sich zu reißen, so dass für die Ukrainer selbst nichts mehr übrig bleibt.

Zum Unvermögen noch Pech

Mit solch räuberischem Verhalten könnte die Alte Welt sich wenigstens zum Teil aus der Patsche helfen. Aber jetzt spielt auch noch das Wetter gegen sie. An Düngemittel wird man, so Gott will, noch irgendwie, irgendwo, irgendwelche paar Tonnen schon finden. Was aber, wenn es kein Wasser gibt und die ganze Ernte einfach verdorrt? In diesem Fall kann man nicht einmal Russland die Schuld geben (obwohl Russland sicherlich für den Einsatz von Klimawaffen verantwortlich gemacht werden könnte, das bringt man im Westen auch noch durchaus fertig).

Denn zu all den anderen Problemen in der Europäischen Union kommt nun auch noch die drohende Dürre hinzu. Der Winter war vergleichsweise trocken, und auch im Frühjahr gab es nicht genügend Niederschläge, um den Boden ausreichend zu befeuchten. Daher haben bereits jetzt mehr als zehn Departements in Frankreich die Dürre-Alarmstufe erhöht. Und das bedeutet Einschränkungen für die Bewässerung von Grundstücken, das Waschen von Autos und den Wasserverbrauch im Allgemeinen. Im benachbarten Belgien ist die Lage ähnlich. Auch Westeuropa wurde von einer Hitzewelle heimgesucht, wie sie zu dieser Jahreszeit eigentlich selten ist: In Barcelona brach die Temperatur am 22. Mai einen Rekord für mehr als 100 Jahre meteorologischer Beobachtungen – die Thermometer in der Stadt stiegen auf 33,9 Grad Celsius. In Frankreich liegen die Temperaturen landesweit bei über 30 Grad Celsius – und in Belgien etwa gleich hoch, was im Schnitt 10 Grad Celsius über der Norm bedeutet. Und dabei haben wir erst Mai, der normalerweise kühl und regnerisch ist.

Franzosen, die damals schon auf der Welt waren, fühlen sich bereits an das Jahr 1976 erinnert: Damals wurde Frankreich von einer Hitzewelle heimgesucht und musste schwere Zeiten durchmachen. Im Mai 1976 waren zunächst die französischen Landwirte wegen des ausbleibenden Regens sehr beunruhigt. Die Temperaturen lagen im Mai bei 30, stiegen im Juni auf 35 und im Juli auf bis zu 40 Grad Celsius. Rund 6.000 Menschen starben an Sonnenstich. In einigen Gebieten trockneten die Böden aus und wurden rissig, Wälder wurden trocken und verbrannten, die Pegelstände der Flüsse sanken fast auf Null, die Stromerzeugung aus Wasserkraft ging um ein Drittel zurück, und die Kosten für Tomaten wuchsen innerhalb einer Woche fast auf das Doppelte. Die wirtschaftlichen Folgen zwangen den damaligen Premierminister Jacques Chirac zum Rücktritt. Das heutige Klimabild ist sehr ähnlich – und die Lage von damals könnte wieder eintreten, so wie sich nahezu alles irgendwann wiederholen kann.

Die schlimmen Folgen hätten in Europa vermieden werden können, wenn fachkundige Politiker fachkundige Entscheidungen getroffen hätten. In der Zwischenzeit sind es die Russophoben und Konzerne, die im Namen des Hasses bereit sind, in ihren eigenen Ländern alles und jeden in den Ruin zu treiben – oder sich komplett in Vasallenschaft gewisser überseeischer Länder zu begeben, die über das Geschehen in Europa auch ohnedies schon so oft die volle Kontrolle haben. Für diejenigen, die ruhig in der Herde mitlaufen und sich auch ansonsten unkompliziert geben, werden die Entscheidungen von anderen getroffen. Die Verantwortung ist auch kollektiv, es ist ja immer möglich, Fehler auf Brüsseler EU-Beamte zu schieben, die ja nicht von den Menschen selber gewählt – sondern von ihresgleichen, von Beamten aus ihren eigenen Reihen ernannt werden. Andere Länder, die nicht einverstanden sind, versucht man in die Zwangsjacke zu stecken, damit sie bloß das Gleiche tun wie alle anderen auch. So viel zu freier Willensäußerung und Demokratie. Wohin Europa damit sich selbst manövriert und wie es sich in den kommenden Jahren ernähren will, wird interessant zu beobachten sein. Ein schönes Bild dürfte es jedoch kaum bieten.

Mehr zum Thema – Energiemangel – die neue Strategie des Westens, den Süden in Ketten zu halten?

Übersetzt aus dem Russischen.

Anastassía Popówa ist eine russische Fernsehjournalistin. Sie leitet das Brüsseler Büro des WGTRK-Konzerns und ist seine Sonderkorrespondentin in Belgien. Popówa war gleich ab Beginn der Unruhen in Syrien, mit einem Kamerateam dauerhaft dort unterwegs und führte ihre Reportagen oft wörtlich aus dem Kugelhagel.

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