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Der Westen hätte den Ukraine-Krieg verhindern können, wollte es aber nicht

Russland wäre wohl kaum in die Ukraine einmarschiert, wenn eine Koalition aus NATO-Staaten zuvor mit einem direkten Eingreifen gedroht hätte. Dass man darauf im Westen verzichtete, geschah offenbar bewusst. Dahinter stand die Fehleinschätzung, Russland wirtschaftlich erdrosseln und politisch isolieren zu können.
Der Westen hätte den Ukraine-Krieg verhindern können, wollte es aber nichtQuelle: www.globallookpress.com © Michael Kappeler

Von Bernd Murawski

Dies ist die Geschichte von jemandem, der es in der Hand hatte, einen Krieg zu verhindern. Stattdessen verfolgte er ein höheres Ziel und steigerte sich in einen Wahn, der ihn blind für die Realitäten machte. Am Ende scheiterte er kläglich. Nicht nur misslang sein Vorhaben, sondern er geriet in eine schlechtere Lage als zuvor. Der Weg führte über Hunderttausende von Toten und massive Zerstörungen, die er in Kauf nahm, weil er sich nicht verantwortlich fühlte. Gemeint ist der kollektive Westen.

Eine Beistandserklärung für die Ukraine

Wie Russland 2015 dem Beistandsgesuch der syrischen Regierung nachkam und militärische Unterstützung gewährte, hätte eine Gruppe von NATO-Staaten ankündigen können, bei einem russischen Angriff Kampfeinheiten in die Ukraine zu schicken. Dies wäre der Kiewer Führung vor Beginn des bewaffneten Konflikts für den Fall zugesichert worden, dass sie eine entsprechende Bitte vorgebracht hätte. Da es sich um einen Verteidigungskrieg gehandelt hätte, wären die Hilfeleistungen völkerrechtskonform gewesen.  

Die russische Militäraktion gegen die Ukraine mag die Öffentlichkeit wie auch die meisten politischen Beobachter überrascht haben, kaum jedoch westliche Geheimdienstkreise. Obgleich keine letzte Gewissheit bestand, dürften Erkenntnisse aus der Satellitenüberwachung Hinweise auf einen möglichen russischen Angriff gegeben haben. Für wie ernst die Indikatoren gehalten wurden, bezeugen die Warnungen, die laut Medien an politische Entscheidungsträger weitergegeben wurden. Hätten sich die Befürchtungen als unbegründet erwiesen, wären Schutzzusagen der NATO-Mitglieder an die Ukraine zumindest ein Signal an Russland gewesen.   

In einer "Koalition der Willigen" hätten die USA die Führung übernommen, weil sie den Großteil der Militärausrüstung bereitstellen würden. Großbritannien und Polen wären gleichfalls in eine zentrale Rolle gelangt, während sich Deutschland eher zurückgehalten hätte. Alle NATO-Mitglieder wären aufgefordert gewesen, sich dem Projekt zur Unterstützung der Ukraine anzuschließen, ebenso die Beitrittskandidaten Schweden und Finnland. Manche Staaten hätten Bodentruppen und Luftstreitkräfte bereitgestellt, andere sich auf die Lieferung militärischer Geräte und logistische Unterstützung beschränkt. Für die Koordination wäre entweder das Kommando der US-Armee oder das NATO-Hauptquartier verantwortlich gewesen. Eine formelle Beteiligung der NATO hätte es indes nicht geben, weil einige Mitglieder wie die Türkei und Ungarn eine Teilnahme abgelehnt hätten.

Die zu erwartenden Reaktionen

Wäre eine westliche Unterstützergruppe gebildet worden, die einem Hilfegesuch Kiews gefolgt wäre, hätte Russland wohl kaum einen Waffengang wie im Februar letzten Jahres riskiert. Sowohl Vertreter des NATO-Blocks als auch russische Führungsmitglieder haben wiederholt erklärt, dass ein militärischer Zusammenstoß der Armeen beider Seiten unbedingt vermieden werden sollte. Dazu wäre es aber unweigerlich gekommen, wobei über den Ausgang angesichts der klaren Überlegenheit der westlichen Militärkräfte kein Zweifel bestanden hätte.   

Probleme hätte es eher durch die Ukraine gegeben. Das im Frühjahr 2021 verabschiedete De-Okkupationsdekret hat die Kiewer Führung nämlich verpflichtet, die verlorenen Territorien notfalls gewaltsam zurückzuerobern. Außerdem hätte sie Schläge gegen Ziele jenseits der russischen Grenze ausführen können, wie es in den letzten Monaten wiederholt geschehen ist. Die US-geführte Koalition hätte daher deutlich machen müssen, dass allein defensive Operationen unterstützt werden. Offen wäre geblieben, wie ukrainische Angriffe auf die Krim und den Donbass zu bewerten gewesen wären.

In der Ukraine dürfte ein Interesse bestanden haben, Russland zu Gegenschlägen zu provozieren, um danach den Westen um Beistand zu ersuchen. Bereits die Stationierung russischer Truppen in den Donbass-Republiken, wie sie nach deren Anerkennung durch Russland am 21. Februar 2022 und dem Abschluss von Beistandspakten erfolgte, hätte Kiew als Eindringen in das eigene Hoheitsgebiet interpretiert. Der Kreml hätte seinerseits erklärt, dass die Republiken Donezk und Lugansk inzwischen Völkerrechtssubjekte geworden seien und wegen ukrainischen Beschusses um Hilfe bäten.

Wahrscheinlich wäre es zu einer Fortsetzung der Grenzscharmützel gekommen, und obendrein hätte Russland massive Gegenschläge bis ins ukrainische Hinterland unternehmen können. Die US-geführte Unterstützergruppe wäre daraufhin bei einem Hilfeersuchen der Kiewer Regierung in eine prekäre Lage geraten. Selbst wenn sie sich der ukrainischen Argumentation nicht angeschlossen hätte, wäre sie allein um ihrer Glaubwürdigkeit willen zum Handeln aufgefordert gewesen.

Um einen militärischen Schlagabtausch mit Russland zu vermeiden, hätte sie wahrscheinlich von Kiew verlangt, die alleinige Kontrolle über den Grenzabschnitt zu bekommen. Aufgrund gleicher Überlegungen hätte sich Moskau veranlasst gesehen, die Donbass-Milizen unter seine Fittiche nehmen. Damit hätte sich die Lage an der Front zum ersten Mal seit mehr als acht Jahren vollständig beruhigt. Die russische Führung hätte als Erfolg deklarieren können, mit der Beendigung der humanitären Notlage im Donbass eines ihrer Ziele erreicht zu haben.

Schwächung Russlands als favorisierte Alternative

Das hier vorgestellte Szenario hätte für die westliche Seite zwei entscheidende Vorteile: Zum einen könnte die bereits begonnene Stationierung von Einheiten der NATO erweitert und die Ukraine später als Mitglied aufgenommen werden. Zum anderen hätte Kiew die Möglichkeit, seine Ukrainisierungspolitik ungehindert fortzusetzen und russische Elemente aus Sprache, Schrift und Kultur weiter auszumerzen. Sowohl eine NATO-Präsenz als auch die Zurückdrängung russischen Einflusses liegen zweifelsohne im westlichen Interesse. Desto unverständlicher erscheint, dass ein militärisches Vorgehen Russlands gegen die Ukraine offenbar zugelassen wurde.

Augenscheinlich gab es für die politische Elite des Westens ein wichtigeres Ziel als mögliche Militärbasen an der russischen Grenze und die Umwandlung der Ukraine in ein "Anti-Russland". Worum es sich dabei handelte, wurde von führenden Politikern und Vertretern einflussreicher Think-Tanks mehrfach offen ausgesprochen, etwa von Annalena Baerbock mit den Worten, Russland ruinieren zu wollen. Über die Schaffung von wirtschaftlichem Chaos sollten Russland und seine Regierung nachhaltig geschwächt und als Machtfaktor gestutzt werden. Wie der russische Außenminister Sergei Lawrow erwähnte, existieren sogar Pläne, das Land zu zerstückeln und die einzelnen Teile zu "dekolonialisieren".

Um die hierfür notwendigen "beispiellosen" Sanktionen verhängen zu können, bedurfte es eines überzeugenden Anlasses. Dieser war durch den russischen Einmarsch in die Ukraine gegeben. Mehrere Ereignisse im Vorzeitraum wie der von der OSZE dokumentierte intensivierte Beschuss von Städten des Donbass, die Konzentration ukrainischer Truppenverbände im Osten des Landes und die verstärkte Aufrüstung der Ukraine durch den Westen dienten offensichtlich dem Zweck, den Druck auf den Kreml zu erhöhen. Der Abzug westlicher Militärberater in den ersten Wochen des Februar 2022 kann als Fingerzeig interpretiert werden, dass das Terrain für einen russischen Angriff geräumt würde.

Wenn der Westen eine mögliche Vereitelung des militärischen Konflikts unterließ, um Russland stattdessen maximal schädigen zu können, dann bestand verständlicherweise kein Interesse an sicherheitspolitischen Lösungen, die Moskau akzeptiert hätte. Ebenso wenig ging es um das Recht der Ukraine auf Selbstbestimmung und freier Wahl ihrer ausländischen Partner. Sollte der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij an eine solche Mission des Westens geglaubt haben, dann wurde er arg getäuscht. Seine Auftritte in westlichen Parlamentssälen dienten wie die verzerrte Berichterstattung über die Kriegsereignisse vielmehr einer Propagandamaschinerie, deren Zweck die Dämonisierung Russlands war.

Der massive Informationskrieg unter Beteiligung von Politikern, Experten und Medien erzielte schließlich eine breite Akzeptanz der Sanktionsmaßnahmen. Frühere Differenzen innerhalb der westlichen Staatengemeinschaft, die wirtschaftlich, historisch und geographisch bedingt waren, lösten sich scheinbar in einer einheitlichen antirussischen Front auf.

Die Bedeutung geopolitischer Interessen

Um die westlichen Motive für eine Schwächung Russland zu verstehen, bedarf es eines Blickes auf die Interessenlagen der Länder. Nach Wladimir Putins Machtübernahme schien sich George F. Kennans Voraussage von 1997 zu erfüllen, dass sich die Demütigung Russlands und die Ausweitung der westlichen Machtsphäre nach Osten langfristig rächen würden. Als sich die russische Föderation innen- und außenpolitisch zunehmend von westlichen Leitbildern entfernte und gleichzeitig ihr Selbstbewusstsein wuchs, antwortete der Westen mit Kritik und Distanz.

Schließlich stellte Moskau den Hegemonialanspruch der USA infrage, was zum erste Mal deutlich in Putins Rede auf der Münchener Sicherheitskonferenz 2007 zum Ausdruck kam. Die Reaktionen auf das russische Votum für eine multipolare Welt gleichberechtigter Staaten waren gespalten. Der größte Widerstand kam von den angelsächsischen Staaten, allen voran den USA und Großbritannien. Sie sahen ihre globale Dominanz bedroht, die sich auf den militärischen Bereich wie auch auf die Finanzwelt erstreckte. Mithilfe von Erlösen aus dem Finanzsektor kompensierten sie die wachsenden Außenhandelsdefizite, die auf einer jahrzehntelangen Vernachlässigung des produktiven Sektors beruhten.

Dagegen konnten Deutschland und andere Staaten Kontinentaleuropas ihre Wettbewerbsfähigkeit erhalten und sogar partiell ausbauen. Einen wesentlichen Anteil daran hatten billige Rohstoffe aus Russland, das überdies ein wichtiger Absatzmarkt für europäische Produkte war. Eine ähnlich große Bedeutung erlangte die Etablierung von Wertschöpfungsketten, in denen China eine herausragende Stellung einnimmt.

Gleichwohl sind Russland und China die Hauptprotagonisten einer multipolaren Weltordnung. Ihr Bestreben ist darauf gerichtet, neokoloniale Strukturen, die dem Westen eine Vormachtstellung einräumen, durch größere nationale Eigenständigkeit, faire Handelsbeziehungen und Win-Win-Konstellationen zu ersetzen. Die Bedrohung seiner Privilegien hat den Westen zu einer Schicksalsgemeinschaft zusammengeschweißt, deren wirtschaftliche und politisch-strategische Interessen mit Beschwörungen demokratischer Werte und einer regelbasierten Ordnung kaschiert werden. Dennoch gibt es Unterschiede in der Betroffenheit, da Kontinentaleuropa dank der entwickelten Realwirtschaft seinen Platz in einer multipolaren Welt finden dürfte, während den angelsächsischen Staaten ein schmerzlicher Machtverlust droht.

Die Schaffung einer anti-russischen Front

In Moskau dürfte nicht unbemerkt geblieben sein, dass Washington und London bei der Eindämmung Russlands eine führende Rolle spielen und die deutsche Regierung eine eher zögerliche Haltung einnimmt. Seit den 1990er Jahren hatte sich zwischen Russland und Deutschland über zahlreiche Kooperationsformate ein Vertrauensverhältnis entwickelt, das zunehmend unter angelsächsischen Beschuss geriet. Durch antirussische Medienpropaganda und die Schaffung vollendeter Tatsachen wie den Maidan-Umsturz 2014 konnten die EU-Staaten tendenziell veranlasst werden, ihre Ostpolitik an US-Zielen auszurichten.

Wenn Deutschland trotz mancher Bedenken mitgezogen ist, dann aus der Überzeugung, dass das gemeinsame Interesse des Westens am Erhalt seiner globalen Dominanz Geschlossenheit erfordere. Es wurde aber auch befürchtet, dass die USA bei widerspenstigem Verhalten zu Drohinstrumenten wirtschaftlicher, medialer oder geheimdienstlicher Art greifen könnten.

Die wachsende Bereitschaft der Bundesregierung, sich an Russland-feindlichen Aktionen zu beteiligen, basierte auf der Annahme, dass der östliche Nachbar auf westliche Technologien angewiesen sei und keinen Abbruch der Beziehungen zu seinen Wirtschaftspartnern in der EU riskieren würde. Trotz gesteigertem Russland-Bashing, zuletzt mit der Nawalny-Affäre von Berlin selbst orchestriert, war man zuversichtlich, dass der Kreml stillhalten und westliche Provokationen und Diffamierungen weiterhin schlucken würde.

Dieser Glaube erschien begründet, da ein großer Teil der russischen Produktion auf westlichem Know-how beruhte. Die Funktionsfähigkeit vieler Betriebe und Anlagen war abhängig von Ersatzteilen, Vorprodukten und Wartungsdiensten aus dem Ausland. Die hohe Verletzlichkeit der Wirtschaft wurde der russischen Führung spätestens durch die Sanktionen bewusst, die infolge der Krim-Angliederung verhängt wurden. Um keine weiteren Strafmaßnahmen zu erleiden, sah sich Moskau gezwungen, unvorteilhafte Kompromisse einzugehen und Notlagen zu ertragen. Erwähnt seien das Erste Minsker Abkommen, wodurch ein erfolgreicher Vormarsch der Donbass-Milizen gestoppt wurde, und die Unterbrechung des Krim-Kanals mit dramatischen Folgen für Landwirtschaft und Trinkwasserversorgung.

Die Lage vor Beginn der russischen Militäroperation

Als sich Deutschland und Frankreich Ende 2021 von Minsk II lossagten, schien der Bogen überspannt zu sein. Bereits ein halbes Jahr vorher hatte der Kreml eine neue nationale Sicherheitsstrategie verabschiedet, die es in sich hatte. Nie zuvor waren die westlichen Staaten in einem offiziellen Dokument als feindlich gesonnen bezeichnet worden. Gefordert wurden mehr wirtschaftliche Autarkie und eine Intensivierung der Beziehungen zu China, Indien und anderen Partnerstaaten außerhalb des Westens. Es wurde festgestellt, dass schon große Schritte in diese Richtung unternommen wurden, auch angestoßen durch frühere Sanktionen.

Die an USA und NATO gerichtete sicherheitspolitische Initiative vom Dezember 2021 gilt allgemein als letzter Versuch, eine friedliche Lösung des Ukraine-Konflikts zu erreichen. Doch dürfte die russische Führung angesichts der vorausgegangenen Erfahrungen kaum geglaubt haben, im Westen auf eine konstruktive Haltung zu stoßen. Bei einer Nachbetrachtung drängt sich der Eindruck auf, dass die eigentlichen Adressaten des russischen Vorstoßes befreundete Staaten des Globalen Südens, wohlgesonnene Kräfte im Westen und die eigenen Bürger waren. Russische Interessen sollten bekannt gemacht und als legitim herausgestellt werden, um im Fall einer Militäraktion Sympathie und Zustimmung zu erlangen.   

Die negative Reaktion auf die russische Initiative stützt die Sicht, dass dominante Kräfte im Westen einen militärischen Schlag Russlands gegen die Ukraine herbeiwünschten. Eine Bereitschaft zu Verhandlungen wie auch Gegenangebote zum russischen Vorschlag wären aus diesem Blickwinkel destruktiv gewesen. Dennoch gab es von europäischer Seite mit den Moskau-Besuchen von Olaf Scholz und Emmanuel Macron im Januar 2022 Bemühungen, die Situation zu entschärfen.

Möglicherweise haben die EU-Staatslenker erkannt, dass Russland nicht mit der westlichen Wirtschaftswaffe erschreckt werden kann, und äußerten Bereitschaft zu Kompromissen. Vielleicht wollten sie auch nur den russischen Präsidenten warnen, indem sie ihn über die Sanktionen in Kenntnis setzten, die bei einem Angriff auf die Ukraine verhängt würden. Offenbar haben sie nicht verstanden, dass der Kreml auf eine militärische Auseinandersetzung vorbereitet war und das vergiftete "Angebot" der westlichen Hardliner anzunehmen gedachte.

Rückschläge und Erfolge Russlands im Ukraine-Krieg

Der Moskauer Führung dürften die Intentionen der USA und ihrer Fürsprecher in Europa bekannt gewesen sein. Ebenso hatte man registriert, dass der Westen seine wirtschaftliche und geopolitische Macht überschätzt. Wenn in dessen Hauptstädten die Überzeugung vorherrschte, die russische Führung würde mit der Entscheidung für einen Waffengang in eine aufgestellte Falle tappen, dann beruhte dies offenkundig auf Selbsttäuschung. Anstatt dass der Kreml aufgrund von Druck, Angst oder vermeintlicher Alternativlosigkeit handelte, dürfte er die westliche Hinterlist durchschaut und die sich bietende Gelegenheit genutzt haben. Mit der "erlaubten" Militäraktion konnte Russland nicht nur der Bevölkerung im Donbass helfen, sondern auch weitergehende Ziele ansteuern. Diese waren die Neutralisierung der Ukraine und die Zurückdrängung des ultranationalistischen Einflusses.   

Doch auch die russischen Planer der militärischen Sonderoperation verschätzten sich. Sie mussten bald erkennen, dass die erwartete Unterstützung seitens der ethnischen Russen in der Ukraine ausblieb. In Städten mit russischer Bevölkerungsmehrheit wie Charkow und Odessa gab es nicht einmal Anzeichen für Aufstände oder zivilen Ungehorsam. Obwohl die ukrainischen Bürger als Brüder tituliert und zivile Einrichtungen bewusst geschont wurden, musste die Moskauer Führung konstatieren, dass sich keine prorussische Stimmung wie beim Anti-Maidan neun Jahre zuvor entfachen ließ. 

Ebenso wenig kam es zu Machtveränderungen zugunsten russlandfreundlicher oder zumindest verständigungsbereiter Personen im politischen Zentrum Kiews. Dennoch gelang es, mit der ukrainischen Führung Konsultationen aufzunehmen, nachdem sie durch die russische Militäroperation sichtlich geschockt war. Die erfolgreich verlaufenden Verhandlungen, bei denen Russland seine Kernforderungen durchzusetzen schien, endeten jedoch abrupt, nachdem der Westen unter britischer und US-amerikanischer Federführung intervenierte. Für die russische Seite war dies ein weiterer herber Rückschlag.

Nach den anschließenden ukrainischen Mobilisierungen und der massiven westlichen Waffenhilfe erwies sich das im Einsatz befindliche Militär Russlands als unzureichend. Die Kreml-Führung entschied sich daraufhin zu einer Aufstockung der Truppen und einer Steigerung der Kriegsproduktion. Es herrschte die Überzeugung vor, dass Russlands weitaus größeres Wirtschaftspotenzial und seine militärische Überlegenheit auf längere Sicht zu einem Sieg auf dem Schlachtfeld führen würden. Ferner glaubte man, dass sich die NATO weiter zurückhalten würde.

Wichtige Voraussetzungen für den russischen Eskalationsschritt waren die Zustimmung der eigenen Bürger und die Akzeptanz durch die wichtigsten Verbündeten im Ausland. Hier konnte Russland zweifellos die größten Erfolge verzeichnen. Umfragen zufolge genießt die Moskauer Führung derzeit einen breiteren Rückhalt in der Bevölkerung als vor dem Krieg, zumal der vom Westen erhoffte Zusammenbruch der russischen Volkswirtschaft ausgeblieben ist. Ebenso ist es dem Kreml gelungen, außerhalb der westlichen Staatengemeinschaft Unterstützung und Sympathien oder zumindest Neutralitätsbekenntnisse und Verständnis zu erhalten.

Eine Schlappe für den Westen

Die wohl größte Enttäuschung für den Westen war die Positionierung des Globalen Südens im Ukraine-Konflikt. Dadurch wurden die Hoffnungen auf eine Isolation und wirtschaftliche Strangulierung Russlands zunichte gemacht. Wiederholte Versuche, Druck auf jene Länder auszuüben und sie mit Angeboten zu ködern, verliefen ergebnislos. So beteiligte sich nur ein Viertel der Staaten mit etwa 15 Prozent der Weltbevölkerung an den Wirtschaftssanktionen. Da der Ukraine-Konflikt zudem eher stabilisierend auf die russische Gesellschaft wirkte und die Militäreinheiten mit immer besserem Gerät ausgerüstet werden, haben die westlichen Bestrebungen einer Schwächung Russlands eher das Gegenteil erreicht.    

Unterdessen lässt sich die frühere Chance, den Kreml durch eine Beistandserklärung für die Ukraine von der Militäroperation abzubringen, nicht mehr nachholen. Heute würde dieses Konzept zu einer Beteiligung von NATO-Staaten an den Kampfhandlungen und damit zu einer direkten Konfrontation mit der russischen Armee führen. Der Zweck der Zusicherung militärischen Beistands war ja nicht ein Kriegseintritt, sondern die Abschreckung Russlands. Die Kiewer Führung dürfte angesichts ihrer hoffnungslosen Lage zu einer Eskalation bereit sein, was wohl auch für einige Hardliner im Westen gilt. Die große Mehrheit der Politiker ist sich hingegen der potenziellen Gefahren bewusst.    

Dies gilt ebenso für die Kreml-Führung, auch wenn sie die eigene nukleare Schlagkraft mehrmals thematisiert hat. Entgegen westlichen Befürchtungen scheint es nicht ihre Absicht zu sein, mit einem Atomschlag auf eine mögliche militärische Niederlage zu antworten, zumal sie eine solche gegenwärtig nicht einmal auf dem Schirm hat. Vielmehr will sie eine Lieferung von Langstreckenraketen an Kiew verhindern, die Militärstützpunkte und Großstädte auf russischem Territorium erreichen können. Des Weiteren soll die NATO davon abgehalten werden, mit Bodentruppen oder Luftstreitkräften in den Krieg einzutreten. Nur dann könnte sich die russische Armee angesichts ihrer Unterlegenheit bei konventionellen Waffen gezwungen sehen, nuklear bestückte Raketen einzusetzen.

Vor die Alternative gestellt, eine Eskalation mit unvorhersehbaren Folgen zu riskieren oder eine voraussichtliche ukrainische Niederlage hinzunehmen, scheinen sich einflussreiche Kräfte in den USA für Letzteres zu entscheiden. Eine aktuelle Analyse der RAND Corporation spricht sich für ein baldiges Friedensabkommen aus, wobei ukrainische Gebietsverluste für unvermeidlich gehalten werden. Ferner müsste sich die Ukraine zur Neutralität verpflichten, was ein Ende von NATO-Stationierungsabsichten bedeuten würde. Schließlich wird auch ein Abbau der Sanktionen signalisiert, worüber sich die Europäer wohl am meisten freuen würden.

Nach dem Afghanistan-Krieg, aus dem sich der Westen vor anderthalb Jahren zurückgezogen hat, ist er erneut Opfer seiner eigenen Fehleinschätzung geworden. Die jetzige Schlappe wäre vermieden worden, wenn sich die westlichen Staaten mit dem Status quo zufriedengegeben hätten. Es hätte genügt, der russischen Seite frühzeitig zu signalisieren, dass eine Gruppe von NATO-Staaten an der Seite der Ukraine in einen Verteidigungskrieg eintreten würde. Das Ziel einer nachhaltigen Schwächung Russlands erwies sich hingegen als Vorhaben, das zum Scheitern verurteilt war. Infolgedessen haben die westlichen Politiker sowohl bei ihren eigenen Bürgern als auch bei den Führern des Globalen Südens an Glaubwürdigkeit verloren.

Das Resultat ist ein Scherbenhaufen mit Hunderttausenden von Toten und einem ukrainischen Staat, für den der Zeitraum einer Generation kaum zur Beseitigung aller materiellen und psychischen Schäden ausreichen dürfte. Die EU-Staaten erleiden durch die Abkopplung von ihrem wichtigsten Rohstofflieferanten wirtschaftliche Einbußen und verlieren gleichzeitig an politischem Gewicht. Russland muss seine Fühler in andere Weltregionen ausstrecken, da seine traditionellen Bande zum Westen gekappt wurden. Und die USA werden mit dem Tatbestand konfrontiert, dass sich ihre hegemoniale Stellung beschleunigt dem Ende zuneigt.  

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