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Politikwissenschaftlerin Leukefeld: Erlebe Friedensbewegung zersplittert und zerstritten

Die Journalistin Karin Leukefeld spricht über ihre Einschätzung der deutschen Friedensbewegung. Sie bewertet die Vorgeschichte des Ukrainekriegs, die westliche Propaganda und auch die Zerstrittenheit der Friedensbewegung. Nach zwei Kriegen gegen Russland und die Sowjetunion habe die deutsche Friedensbewegung eine besondere Verantwortung.
Politikwissenschaftlerin Leukefeld: Erlebe Friedensbewegung zersplittert und zerstritten© Felicitas Rabe

Das Interview mit der Politikwissenschaftlerin und Journalistin Karin Leukefeld zur deutschen Friedensbewegung führte Felicitas Rabe.

Frau Leukefeld, am zweiten Dezemberwochenende fand in Kassel der 29. Friedensratschlag statt. Wie haben sich Vertreter der deutschen Friedensbewegung zum Krieg in der Ukraine positioniert? Wie bewerten Sie das Meinungsspektrum in der deutschen Friedensbewegung in Bezug auf Analyse und Hintergrund des Krieges in der Ukraine?

Sehr viele Menschen waren zu dem "Friedensratschlag" gekommen, das ist sicherlich ein Erfolg. Auf den Podien wurde der Krieg natürlich verurteilt. Auch wenn es gute und ausführliche Analysen über den Hintergrund und die Vorgeschichte dieses Krieges gab, wurde doch immer wieder betont, dass Russland oder auch der russische Präsident Putin verantwortlich seien und dass es sich um einen "Aggressionskrieg" handele.

Mich irritiert das, weil sich diesbezüglich die offiziellen Stellungnahmen der deutschen Friedensbewegung nicht wesentlich von dem unterscheiden, was vom ersten Tag an einstimmig über die großen Medien und von der Scholz-Regierung verlautbart wurde. Geradezu reflexartig werden die staatlichen und medialen Anschuldigungen wiederholt, selbst in Gesprächen unter Freunden. Damit wird jede Kritik an der Haltung von Bundesregierung, EU und NATO – vor und nach dem militärischen Eingreifens Russland – abgeschwächt und relativiert.  

Es scheint, als sei der Friedensbewegung ein wesentlicher Kompass abhandengekommen, den Christa Wolf in ihrem Buch Kassandra einmal so beschrieben hat:

"Wann der Krieg beginnt, kann man wissen, aber wann beginnt der Vor-Krieg. / Falls es da Regeln gäbe, müsste man sie weitersagen. / In Ton, in Stein eingraben, sie überliefern. / Was stünde da. Da stünde unter anderen Sätzen: Lasst euch nicht von den Eigenen täuschen."

"Die Eigenen" – die Bundesregierungen unter Merkel und Scholz, Medien, ehemalige Linke, Grüne, Sozialdemokraten und Friedensaktivisten, die in Parteien, in Nichtregierungsorganisationen oder Stiftungen, im Bundestag oder über das EU-Parlament großgeworden sind – haben die Öffentlichkeit getäuscht. Die NATO und die EU-Kommission sind seit 2014 im Gleichschritt auf US-Kurs und haben sich politisch, militärisch und medial gegen Russland aufgerüstet. Ich sage ausdrücklich "EU-Kommission" und nicht "europäische Staaten". Die haben außenpolitisch meist andere Interessen und werden – einschließlich den neutralen Staaten Österreich und Schweiz – immer mehr in die Gefolgschaft gezwungen.

Die Friedensbewegung hat diese Entwicklung in ihrer Tragweite nicht erkannt, die Gefahr nicht verstanden oder nicht ernst genommen, obwohl die Vorgeschichte von NATO- und EU-Osterweiterung bekannt war. Die Aufrüstung der osteuropäischen Staaten, auch der Ukraine, war bekannt. US-Truppentransporte liefen ungebremst wieder von West nach Ost durch Deutschland, Proteste und Versuche, diese Transporte mancherorts zu stoppen, blieben vereinzelt und erfolglos. Es war bekannt, dass die NATO im Jahr 2022 von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer Manöver entlang der Grenze zu Russland geplant hatte, die nahezu nahtlos ineinander übergingen.

Ein Redner in Kassel sagte, der Krieg sei die "Antwort auf eine tatsächliche Bedrohung" gewesen. Und ja, für Russland war die Entwicklung eine Provokation, nachdem es seit Jahren gefordert hatte, dass es Verhandlungen über eine europäische Sicherheitsstruktur geben müsse. Das war Thema eines Gipfeltreffens zwischen Washington und Moskau in Genf im Juni 2021, über das breit berichtet worden war. Vor genau einem Jahr, am 17. Dezember 2021 veröffentlichte Moskau den Text eines Schreibens an die USA und die NATO, in dem ein Neutralitätsstatus für die Ukraine und ein Stopp der militärischen Ausweitung und Aktivitäten der NATO in Osteuropa und in der Ukraine gefordert wurden. Russland wollte "legal bindende Garantien", darunter die Zusage, dass weder die Ukraine noch andere ehemalige Republiken der UdSSR in die NATO aufgenommen würden. Die USA wie die EU wiesen diese Vorschläge zurück und waren nicht einmal bereit, darüber zu verhandeln.

Krieg gab es in der Ukraine seit 2014. Der Krieg im Donbass und die Russland- und Russen-feindlichen politischen Entscheidungen in der Ukraine – vieles deutete auf die Verschärfung des Klimas in der Region hin. Dazu kam die Dämonisierung Russlands und des russischen Präsidenten in Politik und Medien in Deutschland, das Verbot russischer Medien – ich kann mich nicht erinnern, dass die Friedensbewegung sich in den letzten acht Jahren mit diesen Entwicklungen intensiv befasst und von den westlichen Regierungen einen sichtbaren und deutlichen Verhandlungswillen mit Russland gefordert hätte.

Auf der Konferenz konnte man den Eindruck gewinnen, dass sich die deutsche Friedensbewegung mehr oder weniger mit dem Mainstream-Narrativ vom "völkerrechtswidrigen russischen Angriffskrieg" einig ist. Dabei wurde im Vorfeld der Konferenz eine Analyse von Doris und George Pumphrey veröffentlicht, die dieses Narrativ in Frage stellt. Schließt sich die Mehrheit der Friedensaktivisten der Darstellung in den Medien tatsächlich an? Warum wurde darüber so wenig diskutiert?

Die Pumphrey-Analyse war m.W. kein Thema auf der Konferenz. Ich weiß nicht, ob sie auslag oder verteilt wurde. (Ich habe es jedenfalls nicht gesehen.) Es war auch keine Arbeitsgruppe dazu vorgesehen, in der ein Rückblick auf die Arbeit der Friedensbewegung hätte diskutiert werden sollen. Dabei wäre eine Analyse der Geschichte in und um die Ukraine dringend notwendig. Die Entwicklungen in der Ukraine nach 2014 scheinen bei der Friedensbewegung und vielen Linken wenig bekannt zu sein.

Es gibt auch keine Diskussion über den Artikel 51 der UN-Charta, das "naturgegebene Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung", auf das sich Russland mit der Militäroperation ja beruft. Es gibt keine Debatte über die Bedeutung von staatlicher Neutralität und deren Bedeutung für Frieden. Ein Redner in Kassel sagte während der Ukraine-Debatte, USA und NATO hätten die Vertragsentwürfe Russlands (vom Dezember 2021) nicht einmal angesehen, denn "der Krieg war gewollt", sagte er. Vielleicht stimmten viele der Teilnehmenden dem sogar zu, aber es werden offenbar keine Konsequenzen aus dieser Erkenntnis gezogen.

Gibt es über den Ukrainekrieg weitere Kontroversen in der Friedensbewegung? Worum geht es da und wo werden die Diskussionen geführt?

Ich erlebe die Linke und die Friedensbewegung in Deutschland zersplittert und zerstritten. In einem lokalen Friedensbündnis hörte ich, dass jemand vorschlug, eine interne Diskussion darüber zu führen, wie der Krieg in der Ukraine und das Verhalten Russlands völkerrechtlich zu bewerten seien –  ob es sich wirklich um einen Bruch des Völkerrechts handele. Allein der Vorschlag stieß schon auf Ablehnung. Das liegt möglicherweise auch daran, dass die bekannten Sprecher von großen Friedensorganisationen in der Öffentlichkeit immer wieder einen "russischen Angriffskrieg" verurteilen und sagen, dieser sei "völkerrechtswidrig". Damit werden notwendige Debatten in lokalen Bündnissen gestoppt.

"Russland trägt Verantwortung und auch die NATO trägt Verantwortung, wie kommen wir da raus", fragte ein Redner in Kassel. Ich bin überzeugt, USA und NATO wissen genau so gut wie Russland, welche Auswege es gibt. Russland hat sehr genau seine Forderungen genannt, aber was soll es tun, wenn der Westen das ignoriert? Nur mal zur Erinnerung: Unmittelbar nach Beginn des Krieges begannen direkte Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine, und im April lag daraufhin eine vorläufige Verhandlungslösung auf dem Tisch.

Doch dann intervenierte Großbritannien in Person des damaligen Premierministers. Boris Johnson reiste nach Kiew und erklärte der Ukraine, dass es keine Verhandlungslösung geben solle. Das ging international durch die Medien – und damit weiß die Friedensbewegung doch, was zu tun ist. Ihr Adressat ist die Bundesregierung und das westliche NATO-Bündnis, die offenbar nicht an einer Lösung interessiert sind.

Welche Forderungen sollten Ihrer Meinung nach von der Friedensbewegung gestellt werden? Wie bewerten Sie die Standpunkte und Aktionen in der deutschen Friedensbewegung? Welche Chancen sehen Sie aktuell in der deutschen Friedensbewegung und ihrem Einfluss auf die deutsche Politik? 

Ich arbeite seit vielen Jahren in Ländern des Mittleren Ostens in der arabischen Welt und habe Krisen und Kriege erlebt und sehe, welche Folgen das auf die Bevölkerung hat. Hintergrund der Kriege gegen Irak, in Libyen, Syrien, Jemen, die anhaltende Besatzung palästinensischen und arabischen Bodens durch Israel – alles das hat viel mit den westlichen Interessen in der Region zu tun.

Die USA und auch die EU sprechen vom "Greater Middle East" (Großraum Mittlerer Osten), das ist eine geostrategische Bezeichnung für die Region von Zentralasien über Iran, die arabische Halbinsel, die Türkei und Nordafrika und umfasst den Indischen Ozean, den Persischen Golf, das Rote Meer, den Suezkanal, das Kaspische und das Schwarze Meer, das südliche Mittelmeer bis zum Atlantik. Waffenlieferungen, finanzielle Hilfen, einseitige wirtschaftliche Strafmaßnahmen/Sanktionen und sogenannte "sanfte Machtinterventionen" (Soft Power Interventions) mit "Hilfs- und Demokratisierungsprogrammen" von Nichtregierungsorganisationen und Stiftungen schränken die souveräne politische, soziale und kulturelle Entwicklung in den dort liegenden Ländern ein und spalten die Bevölkerungen.

Millionen Palästinenser leben seit Generationen in Lagern, weil Israel von seinen Verbündeten im Westen nicht zur Anerkennung eines palästinensischen Staates gezwungen wird. Politische und soziale Konflikte und Entwicklungen, die gesellschaftlich und innenpolitisch in jedem einzelnen Land gelöst werden müssen und auch können, werden von den USA, der EU und Israel mit wechselnden regionalen Partnern für ihre geopolitischen Interessen instrumentalisiert.

Ob das Kopftuch der iranischen Frauen, die Freilassung von Gefangenen in Syrien, die Rechte der schiitischen Muslime im Irak unter Saddam Hussein, der Kurden in Syrien, Irak, Iran oder in der Türkei, der asiatischen Gastarbeiter in Katar oder anderen Golfemiraten – die Entwicklung zeigt uns, dass es nur vordergründig um Menschenrechte und Demokratie, tatsächlich aber um Geopolitik geht.

Es geht um Rohstoffe, um die Kontrolle von Transportwegen, um die Konfrontation mit Staaten und Regierungen, die andere politische Vorstellungen haben, als die USA, die EU oder Deutschland. Die westliche Politik im Mittleren Osten, auch das Vorgehen Deutschlands, wird immer häufiger als "eurozentristisch" und "neo-kolonial" charakterisiert. Darum wenden sich die Länder von den USA und der EU oder Deutschland ab und sie wenden sich – über alle mögliche Skepsis hinweg – Russland und China zu.

Die Friedensbewegung scheint diese Entwicklung nicht richtig verstanden zu haben. Seit dem weltweiten Protest gegen die völkerrechtswidrige US-geführte Invasion in den Irak (2003) hat es nie wieder große Proteste gegen die Verwüstung einer ganzen Region gegeben. Die analytische Schwäche über die Zielsetzung der Politik der eigenen Regierung und deren Position in westlichen Bündnissen ist m.E. eine der Ursachen, warum die Friedensbewegung auch jetzt in der aktuellen Konfrontation so schwach ist.

Dabei hat die deutsche Friedensbewegung doch auch eine historische Verantwortung. Deutschland führte im 20. Jahrhundert zwei Kriege gegen Russland und die Sowjetunion, die es verlor und dabei weite Teile Europas verwüstete. Die deutsche Friedensbewegung hat die Verantwortung, für Frieden und für Freundschaft mit Russland und für die Selbstbestimmung aller Länder auf die Straße zu gehen.

Karin Leukefeld istPolitikwissenschaftlerin und Journalistin. Seit dem Jahr 2000 arbeitet sie als freie Korrespondentin im Nahen Osten. Zuletzt veröffentlichte sie 2016 das Buch "Syrien zwischen Schatten und Licht: Menschen erzählen von ihrem zerrissenen Land" mit Geschichten und Geschichte von 1916 bis 2016.

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