International

Proteste in Peru nehmen zu, Zahl der Todesopfer steigt weiter an

Lateinamerikanische Regierungen mahnen zur Respektierung des Wählerwillens. Eine Ombudsfrau berichtet über sieben Tote durch Schussverletzungen nach Polizeieinsätzen.

von Olga Espín

In Peru gehen auch noch knapp eine Woche nach der Absetzung von Präsident Pedro Castillo Tausende auf die Straße und fordern die Auflösung des Kongresses und den Rücktritt von Dina Boluarte, die als seine Nachfolgerin eingesetzt wurde. Die Demonstranten verlangten zudem die sofortige Freilassung Castillos, der wegen "Verbrechen gegen die Staatsgewalten und Verfassungsbruch" in Haft ist.

Auch in den vergangenen zwei Tagen wurden in mehreren Verwaltungsbezirken die Hauptverkehrsstraßen blockiert. In der Hauptstadt Lima hinderte die Polizei Demonstranten gewaltsam daran, zum Regierungspalast und zum Parlament zu gelangen. In der südlichen Andenstadt Cusco marschierten Tausende zum Flughafen der Stadt, um ihn zu besetzen, wie es zuvor bereits in Andahuaylas und Arequipa geschehen war.

Ebenfalls in der Hauptstadt griffen Gruppen von Aktivisten die Gebäude der Staatsanwaltschaft und des Obersten Gerichtshofs an. Bei den als rechtsgerichtet bekannten Fernsehsendern América-Canal N und Panamericana zerschlugen sie Fensterscheiben und drangen in die Büros ein, zudem wurde ein Übertragungswagen von Radio Exitosa zerstört.

Die Zahl der toten Protestteilnehmer nach Polizeieinsätzen beläuft sich inzwischen auf sieben, darunter sind auch zwei Jugendliche. Alle starben an Schussverletzungen. Dies gab die Leiterin der peruanischen Ombudsbehörde, Eliana Revollar, am Montag nach einem Tag eskalierender Demonstrationen und Straßenblockaden bekannt.

Unterdessen brachten die Regierungen von Argentinien, Bolivien, Mexiko und Kolumbien am Montag ihre "tiefe Besorgnis" über die jüngsten Ereignisse zum Ausdruck, die zur Absetzung und Verhaftung von Castillo geführt haben.

In einem gemeinsamen Kommuniqué riefen die Außenminister der vier Länder die politischen Akteure in Peru dazu auf, dem "Willen des Volkes, wie er an den Wahlurnen zum Ausdruck gekommen ist", Vorrang einzuräumen. Dies entspreche "der Tragweite und Bedeutung des Begriffs der Demokratie, wie er im Interamerikanischen Menschenrechtssystem verankert ist". Zudem fordern sie die Entscheidungsträger der Institutionen auf, "den durch das freie Wahlrecht zum Ausdruck gebrachten Volkswillen nicht umzukehren".

"Es ist keine Neuigkeit für die Welt, dass Präsident Castillo Terrones seit dem Tag seiner Wahl Opfer undemokratischer Schikanen war". Diese Vorgänge stellten ebenso wie das gegen ihn gerichtete Vorgehen der Justiz eine Verletzung der Amerikanischen Menschenrechtskonvention dar. Man erwarte von den Behörden, dass sie "die Menschenrechte von Präsident Pedro Castillo in vollem Umfang respektieren" und dass ihm Rechtsschutz im Sinne dieser Konvention gewährt werde, heißt es abschließend.

Zuvor hatten sich bereits die Staatschefs von Kuba und Venezuela geäußert. Die Bevölkerung habe mit Castillo einen Lehrer zum Präsidenten gewählt. Bereits "mit seiner Vereidigung begann die Verschwörung für einen parlamentarischen Putsch", schrieb Venezuelas Präsident Nicolás Maduro in einem Tweet.

Kubas Staatspräsident Miguel Díaz-Canel erklärte, die Situation in Peru sei "das Ergebnis eines von den herrschenden Oligarchien gesteuerten Prozesses zur Untergrabung des Willens des Volkes, das seine Regierung in Übereinstimmung mit dem peruanischen Rechtssystem gewählt hatte."

Castillo war am Mittwoch vergangener Woche vom Parlament abgesetzt und verhaftet worden, nachdem er die Auflösung des Kongresses angekündigt hatte.

Der ehemalige Landschullehrer und Gewerkschafter wurde am 6. Juni 2021 in der Stichwahl zum Präsidenten gewählt, nachdem er sich knapp gegen seine ultrarechte Rivalin Keiko Fujimori ‒ Tochter und glühende Anhängerin des inhaftierten Ex-Diktators Alberto Fujimori (von 1990-2000 Perus Präsident) ‒ durchgesetzt hatte. Als Außenseiter-Kandidat, der das politische Establishment schockierte, war er zuerst mit Versuchen konfrontiert, das Wahlergebnis anzufechten, und als dies erfolglos blieb, begann eine unerbittliche Destabilisierungskampagne seitens seiner rechten Gegner.

Castillo trat bei der Präsidentschaftswahl für die Partei Perú Libre an, die sich selbst als marxistisch bezeichnet und eine fortschrittliche, auf die Entwicklung des Landes orientierte Agenda vertritt. Er sprach sich für die Verstaatlichung und Teilverstaatlichung von Infrastruktur und Rohstoffförderung, für die Umverteilung des Reichtums des Landes an die Armen sowie für die Demokratisierung und Verbesserung des Bildungs- und Gesundheitssystems aus. Seine Basis und Wählerschaft hat er in der verarmten, vor allem ländlichen Bevölkerung, den indigenen und kleinbäuerlichen Gemeinschaften.

Als politischer Neuling kämpfte Castillo gegen die Obstruktionsversuche des rechtsdominierten Kongresses und des politischen und medialen Establishments des Landes um die Bildung einer stabilen Regierung. Seine 16-monatige Amtszeit war geprägt von Versuchen konservativer politischer Kräfte, die Regierung abzusetzen. Ständig wurde er von den Manövern des Kongresses und immer neuen, nicht belegten Korruptionsvorwürfen bedrängt. Er zerstritt sich schließlich mit seiner Partei, nahm im Bemühen um eine gewisse Stabilität Abstand von Reformvorhaben und wandte sich später gar an die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) um Unterstützung.

Kritik an Castillo kam indes auch von sozialen Organisationen und Gewerkschaften, unter anderem wegen der fehlenden Umsetzung der zugesagten Agrarreform, mangelndem Dialog mit Basisorganisationen sowie dem ständigen Austausch von Kabinettsmitgliedern. Dennoch demonstrierten Mitte November tausende Menschen in Lima gegen den Versuch des Parlaments, Castillo abzusetzen. Gewerkschaften, soziale und politische Organisationen aus allen Landesteilen hatten zur "Einnahme Limas" aufgerufen. Castillo erklärte damals: "Das Volk hat im ganzen Land demonstriert, um sein Recht zu verteidigen." Es gehe darum, das Ergebnis der Präsidentschaftswahl von 2021 zu verteidigen.

Am Tag seiner Amtsenthebung sollte der Kongress über einen dritten Antrag auf Amtsenthebung wegen angeblicher Korruptionsfälle abstimmen. Die notwendige Zweidrittelmehrheit von 87 Stimmen war bei den beiden vorangegangen Versuchen nicht erreicht worden, auch wegen der äußerst dürftigen Beweislage.

Um den ständigen Manövern des Parlaments, seine Regierungsfähigkeit zu behindern, ein Ende zu setzen, kündigte Castillo am selben Tag die Auflösung des Kongresses und die Einsetzung einer "außerordentlichen Notstandsregierung" an, die per Dekret regieren würde. Neue Parlamentswahlen sollten durchgeführt und das Justizsystem neu organisiert werden, um die politische Krise im Land zu beheben und die Regierbarkeit wiederherzustellen. Außerdem solle eine verfassunggebende Versammlung durchgeführt werden – dies entspricht einer langjährige Forderung der Volksbewegungen, die die während der Fujimori-Diktatur eingeführte Verfassung von 1993 ersetzen wollen.

Die Chefs der Streitkräfte und der Polizei verweigerten Castillo jedoch umgehend die Gefolgschaft. Damit war das Vorhaben bereits gescheitert. Auch die Mehrheit seiner Minister trug die Maßnahme nicht mit und Vizepräsidentin Dina Boluarte erklärte, sie lehne seine Entscheidung ab, denn es handle sich um einen "Staatsstreich, der die politische und institutionelle Krise verschärft".

Der Kongress stimmte schließlich mit 101 Stimmen von 130 Abgeordneten für Castillos Amtsenthebung.

Nun sind seit vergangenem Mittwoch täglich Tausende im ganzen Land auf den Straßen, wehren sich gegen die Absetzung ihres demokratisch gewählten Präsidenten und fordern die Auflösung des "Putsch-Kongresses".

Mit diesem Ausmaß der Proteste und dem enormen Zorn der um ihren Wahlsieg betrogenen Menschen hatten die "Ewiggestrigen" Perus und ihre Gefolgschaft auch in Teilen der Linken nicht gerechnet.

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