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Zeitenwende und Inflation – Bloß nicht den "verteidigungspolitischen Elan" verpuffen lassen

Zwar konnte Berlin vor dem Hintergrund des Ukraine-Krieges "die größte Investition in unsere Streitkräfte seit ihrem Bestehen" durchsetzen, doch haben Befürworter dieser "Zeitenwende" bereits vor zehn Jahren an ihr gearbeitet. Wegen der Inflation ist die Summe einigen immer noch zu gering.
Zeitenwende und Inflation – Bloß nicht den "verteidigungspolitischen Elan" verpuffen lassenQuelle: www.globallookpress.com © Thomas Imo/PHOTOTHEK/ Global Look Press

Der Begriff "Zeitenwende" ist von der Jury der Gesellschaft für deutsche Sprache zum diesjährigen "Wort des Jahres" gewählt worden, "Krieg um Frieden" landete auf Platz zwei, wie es am Freitag hieß. Vor allem im Zusammenhang mit dem Umdenken zu der militärischen Unterstützung eines nicht-NATO-Staates im Krieg, der Ukraine, und einer nie zuvor da gewesenen Aufrüstung wurde der Begriff unter anderem von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) aufgegriffen und geprägt.

Medial ebenso wenig beachtet wie der in dieser Woche erschiene Offene Brief von zwanzig Nichtregierungsorganisationen, die eine "Zeitenwende hin zu mehr Sicherheit und Abrüstung" fordern, oder die bereits im Juli von einem breiten zivilgesellschaftlichen Bündnis veranstaltete Demonstration für eine "Zivile Zeitenwende" fand Ende November 2022 unter dem Titel "Zeitenwenden: Ukraine-Krieg und Aufrüstung" der 26. Kongress der Informationsstelle Militarisierung (IMI) in Tübingen statt.

IMI-Vorstand Jürgen Wagner stellte zunächst mit einem Rückblick auf die lange Vorgeschichte der heutigen Ereignisse in der Ukraine der allzu häufigen Vereinfachung in der Berichterstattung die Komplexität entgegen, wonach der Westen durch seine aggressive Expansionspolitik eine Mitverantwortung für die katastrophale Lage trägt und dafür, dass diese andauert. Da sowohl verhandelte Friedensvorgaben wie das Minsker Abkommen auch von ukrainischer Seite nicht eingehalten wurden und weiteren Gesprächen, die zu einer Beilegung der Kampfhandlungen führen könnten, eine Absage erteilt wurde, sei es laut Wagner offensichtlich, dass aktuell westlicherseits das Ziel verfolgt werde, durch Waffenlieferungen eine maximale Schwächung Russlands herbeizuführen. Die Weiterführung des aktuellen Kurses würde zwangsläufig auf einen jahrelangen blutigen Zermürbungskrieg mit unzähligen Opfern auf beiden Seiten als Folge hinauslaufen. Die Bundesregierung müsse sich für eine bedingungslose Aufnahme von Verhandlungen einsetzen.

Stattdessen wird auf eine massive Aufrüstung gesetzt. So kritisierte IMI-Beirat Martin Kirsch den Umbau der Bundeswehr sowie die Aufrüstung für Großmachtkriege, die bereits lange vor dem Ukraine-Krieg begonnen, aber durch diesen an Fahrt aufgenommen habe. Mit dem NATO-Gipfel im Sommer dieses Jahres ist ein neues Streitkräftemodell eingeführt worden, mit dem die Fähigkeit erlangt werden solle, innerhalb von 30 Tagen 300.000 Soldaten verlegen zu können. Die Bundeswehr habe zugesagt, hierfür 30.000 Soldaten zu stellen und der NATO einen ersten schweren Großverband nicht, wie ursprünglich geplant, im Jahr 2027, sondern bereits im Jahr 2025 zur Verfügung zu stellen. So werde die Bundeswehr konsequent darauf getrimmt, einen Krieg mit Russland führen zu können. Ihre Strukturen würden derzeit daran angepasst und auch mithilfe des Sondervermögens das entsprechende Material beschafft, erklärte Kirsch.

Eine neue Ära verstärkter Konkurrenz großer Mächte hatte auch EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen deutlich angekündigt. Damit einher geht laut Kirsch die entsprechende akute Aufrüstung mit Blick auf Russland und China, mit neuen NATO Battle Groups in Asien einerseits und Verstärkungen der "Ostflanke" andererseits, mit dem Ukraine-Krieg als Hintergrund, vor dem es sich durchsetzen ließe.

Deutschlands herausgehobene Sonderrolle für das Militärbündnis, die auch NATO-Generalsekretär Stoltenberg jüngst immer offenkundiger betonte, wurde bereits von der früheren Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) vorbereitet, die schon vor zwei Jahren das Ziel ausgegeben hatte, dass Deutschland zehn Prozent der NATO-Fähigkeiten zur Verfügung stellen solle. Die Konturen dieses Plans seien nun klarer geworden, so Kirsch, und liefen darauf hinaus, dass die Bundeswehr 80.000 Soldaten samt Geschütz in abgestufter Kampfbereitschaft halten müsse.

Kirsch setzte die entsprechenden Äußerungen von Politikern wie Lars Klingbeil (SPD) darüber, dass Deutschland eine militärische Führungsrolle übernehmen müsse, in Beziehung zu dieser bereits viel länger vorangetriebenen Bestrebung, die sich schon bei der Münchener Sicherheitskonferenz im Jahr 2012 gezeigt hatte. In der Tat wurden bereits vor zehn Jahren die Grundzüge dieser weniger pazifistischen deutschen Außenpolitik von einer Reihe geneigter Vertreter von Denkfabriken, Politik und Medien ausgearbeitet, was sich unter anderem in einem Papier der Stiftung Sicherheit und Politik (SWP) und des German Marshall Funds (GMF) unter dem Titel "Neue Macht – Neue Verantwortung – Elemente einer deutschen Außen- und Sicherheitspolitik für eine Welt im Umbruch" zeigte.

Darin wurde noch die Haltung der deutschen Öffentlichkeit als eine Art Hindernis erwähnt und war den Autoren als "innerstaatliche Dimension deutscher Außenpolitik" ein Unterkapitel wert. Diesem müsse mit "engagierterer Kommunikation mit der deutschen Öffentlichkeit" begegnet werden. Dazu ein Ausschnitt aus dem Papier von 2012:


"Politik und Öffentlichkeit müssen sich darauf einstellen, dass eine größere deutsche Rolle auf globaler Ebene mit einem höheren Aufwand an Ressourcen verbunden sein wird. Dabei sollte nicht unterschätzt werden, dass die politische Kontrolle deutscher Außenpolitik mit einer exponierteren Rolle schwieriger wird. Das kann Legitimationsprobleme im Inneren verschärfen. Eine aktivere deutsche Außenpolitik verlangt auch eine angemessene Begleitung und Kontrolle durch die Legislative. Dafür sollten nicht zuletzt die personellen und finanziellen Ressourcen des Parlaments gestärkt werden."

In Bezug auf China und Russland, die als prioritäre Staaten unter den sogenannten "Herausforderern" (zu denen außerdem Indien und Brasilien gehörten) aufgeführt werden, heißt es darin:


"… in Deutschlands Beziehungen zu den neuen wirtschaftlichen und politischen Kraftzentren der Welt (wird es) unweigerlich auch zu Konkurrenz und Konflikten kommen: um Einfluss, um den Zugang zu Ressourcen, aber auch um die Architektur der internationalen Ordnung sowie um die Geltung der Normen, die ihr zugrunde liegen. Deutschlands Interesse ist es, dass diese Konkurrenz und Konflikte in friedliche Bahnen gelenkt werden. Dazu bedarf es einer Anpassung der internationalen Ordnung, die noch immer die Mächteverteilung der Nachkriegszeit widerspiegelt. Die neuen Mächte müssen dort angemessen repräsentiert werden – auch, um eine (in Ansätzen bereits sichtbare) neue Blockbildung zu verhindern."

Zum Tag der Deutschen Einheit im Jahr 2013 hat der damalige Bundespräsident Joachim Gauck bereits die deutsche Öffentlichkeit darauf eingestimmt, dass Deutschland sich nicht länger "aus politischen, militärischen und ökonomischen Konflikten" heraushalten könne und wieder eine Rolle in Europa und der Welt spielen müsse, die seiner Größe gerecht werde. Auf der gleichen Linie verkündete dann auch der damalige Außenminister Frank-Walter Steinmeier: "Deutschland ist zu groß, um Außenpolitik nur von der Außenlinie zu kommentieren." Auch Ursula von der Leyen (CDU) beschrieb damals – noch vor Bekanntwerden der Beraterskandale – in ihrer Rolle als Verteidigungsministerin Deutschland als großes Land, das seine "internationale Verantwortung" wahrnehmen müsse.

Vor dem Hintergrund des Ukraine-Krieges werden derartige Ziele nun tatkräftig umgesetzt, wie Kirsch darlegte. So entstehe in Berlin derzeit ein territoriales Führungskommando, das für die Heimatfront zuständig sei, aber auch zivil-militärische Einsätze und Truppenverlegungen plane. Auch die Teilstreitkräfte erhielten neue Führungen, so etwa mit Blick auf die Marine in Rostock. Für die NATO koordiniert Deutschland den Ostseeraum, der, wie auch Merle Weber auf dem Kongress beschrieb, seit Jahren immer weniger als attraktives Urlaubsziel, sondern immer mehr als militärstrategisches Schlüsselgebiet in Erscheinung trete, da bereits im Jahr 2020 der NATO-Block mit dem Großmanöver Defender Europe 20 den "Aufmarsch gegen Russland geprobt" habe.

Vom Westen Deutschlands aus, den niederrheinischen Orten Kalkar und Uedem, soll die Bundeswehr derweil den Luftraum des Bündnisgebiets militärisch absichern. Zudem erweitere man das Weltraumkommando, was laut Kirsch ebenfalls nur größeren Militärmächten möglich sei und für etwas anderes als Großmachtkriege nicht notwendig sei, so Kirsch.

"Mit den Taliban muss man sich nicht im Weltraum streiten."

Kirsch zitierte zudem die mehrfach in diesem Jahr von Bundeskanzler Scholz wiederholten Aussagen, wonach die Landes- und Bündnisverteidigung längst nicht mehr innerhalb der Landesgrenzen Deutschlands stattfindet, sondern Mittel- und Osteuropa einschließe. In der Tat soll die Bundeswehr auch an der sogenannten Ostflanke der NATO "mehr Verantwortung" übernehmen.

Durch den Ukraine-Krieg findet insbesondere die militärische Komponente der von einigen schon lange herbeigesehnten "Zeitenwende" mehr Zuspruch, die "Legitimationsprobleme im Inneren" konnten zum Teil aufgeweicht und vor allem ein massives Rüstungsbudget beschlossen werden, wie IMI-Vorstand Tobias Pflüger in seinem Beitrag "Das Sondervermögen: Projekte – Struktur – Ideologie" aufzeigte.

Neben den bereits zuvor bereitgestellten immensen Summen für das sogenannte Zwei-Prozent-Ziel der NATO, wonach – ungeachtet der Wirtschaftskraft – jedes NATO-Land bis zum Jahr 2024 zwei Prozent seines BIP in die NATO-Aufrüstung zu investieren habe, trieb die Bundesregierung kurz nach dem 24. Februar das Sondervermögen voran, mit dem vormals umstrittene Anschaffungen wie F-35 Kampfjets aus den USA finanziert werden sollen. Laut Pflüger habe Deutschland schon lange den Anspruch, eine militärische Führungsmacht zu werden und mit dem schuldenfinanzierten Sondervermögen stünden nun auch die entsprechenden Ressourcen zur Verfügung. Auf der Berlin Security Conference Ende November sagte Kanzler Olaf Scholz:

"Wir sprechen hier über die größte Investition in unsere Streitkräfte seit ihrem Bestehen."

Doch dass die von vielen fröstelnden, kurz oder kaum duschenden und an Lebensmitteln sparenden Bürgern vorweg kassierten dreistelligen Milliardenbeträge die pannenbehaftete Bundeswehr so richtig auf Vordermann bringen, ist kaum zu beobachten. Und obwohl neben dem Sondervermögen auch der Wehretat auf einen historischen Höchststand angeschwollen ist, gibt es angesichts der Auswirkungen des Ukraine-Krieges und der damit verbundenen Politik neuen Anlass für Forderungen nach weiteren Unsummen für die Aufrüstung.

Zwar war Deutschland im zweiten Jahr der Pandemie das Land mit dem drittgrößten Rüstungsbudget in Mittel- und Westeuropa, seine Höhe umgerechnet 56 Milliarden US-Dollar, doch hat die Inflation die Summe im Vergleich zum Vorjahr um 1,4 Prozent geschmälert. Angesichts der in diesem Jahr noch drastischer angestiegenen Inflation – ein Faktor, der im Hinblick auf gesunkene Reallöhne insbesondere von Arbeitgeberverbänden ungern diskutiert und stattdessen auch von arbeitgebernahen Wirtschaftsinstituten wie dem Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) in Köln als Risikofaktor für eine angeblich drohende Lohn-Preis-Spirale dargestellt wird, in der Arbeitnehmer mit vermeintlich exorbitanten Gehaltsforderungen eine Stagflation riskieren – ist wohl mit noch exzessiveren Forderungen nach weiteren Milliarden für die Rüstung zu rechnen – von der gleichen Seite. 

Schon im Oktober hatte der Bundesrechnungshof die Ausgabenpläne des "Sondervermögens Bundeswehr" bemängelt: Unter anderem hätten die Gesamtausgaben für längst eingeplante vierzig Rüstungsvorhaben der Bundeswehr den Rahmen von 100 Milliarden Euro bereits überschritten, insgesamt seien dafür aber nur 60 Milliarden angegeben worden, so die Rechnungsprüfer. Auch sei eben kein Puffer für Inflation einkalkuliert, hieß es in der Rüge. Womöglich wird auf diese Weise auf eine Verstetigung der erhöhten Rüstungsausgaben hingearbeitet.

Die Ökonomen des IW zeigten selbst auf, dass der seit rund drei Jahren andauernde Krisenmodus einen horrenden Wirtschaftsschaden angerichtet hat: "Ohne Pandemie und Krieg wäre die Wertschöpfung in Deutschland in den Jahren 2020 bis 2022 um insgesamt 420 Milliarden Euro höher ausgefallen." Dennoch beklagten Hubertus Bardt und Klaus-Heiner Röhl vom IW in einer Anfang der Woche veröffentlichten Kurzstudie mit dem Titel "Bundeswehr und Inflation – Was bleibt von der Zeitenwende?" eine angebliche "Unterfinanzierung" des Militärs. Sie mahnten an, dass der "verteidigungspolitische Elan verflogen" sei, und dass "das Zwei-Prozent-Ziel (…) trotz 100-Milliarden-Sondervermögen in weite Ferne" rücke, was sogleich als folgenreiches Problem für die gesteckten militärischen Ziele dargestellt wird:

"Die 2023 rückläufigen Ausgaben für Anschaffungen bewirken, dass die Schließung erkannter Ausstattungsdefizite der Bundeswehr nicht gelingt und die Einsatzbereitschaft niedrig bleibt."

Ausgerechnet die für viele Bürger bereits hochproblematische Inflation bietet den gegen Lohnerhöhungen wetternden, arbeitgebernahen Instituten einen Vorwand für Forderungen nach noch größeren Investitionen in die Rüstung.

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Am 24. Februar kündigte der russische Präsident Wladimir Putin an, gemeinsam mit den Streitkräften der Donbass-Republiken eine militärische Spezialoperation in der Ukraine zu starten, um die dortige Bevölkerung zu schützen. Die Ziele seien, die Ukraine zu entmilitarisieren und zu entnazifizieren. Die Ukraine spricht von einem Angriffskrieg. Noch am selben Tag rief der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij im ganzen Land den Kriegszustand aus.
Der Westen verurteilte den Angriff, reagierte mit neuen Waffenlieferungen, versprach Hilfe beim Wiederaufbau und verhängte Sanktionen gegen Russland.
Auf beiden Seiten des Konfliktes sind zahlreiche Soldaten und Zivilisten getötet worden. Moskau und Kiew haben sich gegenseitig verschiedener Kriegsverbrechen beschuldigt. Tausende Ukrainer sind mittlerweile aus ihrer Heimat geflohen.