Deutschland

Wie entstand die pro-russische Stimmung der Ostdeutschen? Eine Spurensuche

Fast 60 Prozent der Ostdeutschen sind der Meinung, dass Berlin in dem Konflikt mit der Ukraine Moskau besser nicht provozieren sollte. Das britische Magazin "The Spectator" und russische Deutschlandexperten haben über Gründe für die gegenüber Russland loyalen Stimmungen von Ostdeutschen nachgedacht.
Wie entstand die pro-russische Stimmung der Ostdeutschen? Eine SpurensucheQuelle: www.globallookpress.com © Jens Büttner / dpa

Die meisten Ostdeutschen nehmen Russland nicht als Feind wahr und sind mit der Sichtweise des Westens auf die Geschehnisse in der Ukraine nicht einverstanden. Darüber schrieb die Historikerin Katja Hoyer in einem Artikel für das britische Magazin The Spectator. Sie erinnerte daran, dass laut einer im Juni durchgeführten Umfrage nur die Hälfte der Westdeutschen der Meinung ist, dass Berlin "hart gegenüber Russland" sein sollte. Unter den Ostdeutschen teilte nur ein Drittel der Befragten diese Ansicht. Eine Mehrheit von 58 Prozent der Ostdeutschen will, dass Berlin "Russland bei dem Konflikt mit der Ukraine nicht provoziert" (unter den Westdeutschen sind 40 Prozent dieser Meinung).

Die Ostdeutschen stellen 16 Millionen der 80 Millionen Einwohner Deutschlands, und es ist ihre Region, die die Auswirkungen der Wirtschaftssanktionen gegen Russland als erste zu spüren bekommen wird (die Pipelines Druschba, Nord Stream 1 und Nord Stream 2 führen nach Ostdeutschland und bieten Tausende von Arbeitsplätzen). Alexander Kamkin, Stellvertretender Leiter des Zentrums für Deutschlandstudien am Institut für Europastudien der Russischen Akademie der Wissenschaften, betont, dass die neuen Bundesländer besonders auf die Zusammenarbeit mit Russland angewiesen sind.

"Die Unternehmen in Ostdeutschland – in Sachsen, Brandenburg, Mecklenburg – sind stärker an die deutsch-russische Zusammenarbeit gebunden. Nord Stream 1 brachte Arbeitsplätze in ganze Cluster von Industrieansiedlungen. Siemens-Werke in Sachsen lieferten Ausrüstung nach Russland. Denken Sie auch an die Kundgebung Ende Juni zum Erhalt der PCK-Raffinerie in Schwedt an der Oder, wo das Öl aus der Druschba-Pipeline verarbeitet wird. Der Effekt der geteilten Gesellschaft wird daher in Ostdeutschland stärker wahrgenommen", so Kamkin.

Der russische Journalist, Analyst und Schriftsteller Witali Wolkow, der seit 20 Jahren in Deutschland arbeitet, ist ebenso der Meinung, dass die Wirtschaft ein wichtiger Faktor ist, der die öffentliche Stimmung im Lande beeinflusst. "Die neuen Bundesländer sind viel ärmer und anfälliger als die alten Bundesländer. Dort ist es im Winter kälter als in Westfalen und Bayern. Schon jetzt haben die Menschen verteuerte Strom- und Gasrechnungen bekommen. Das hat einen großen Einfluss auf die Stimmung der Menschen", sagt Wolkow.

Darüber hinaus seien viele Menschen in Ostdeutschland unzufrieden mit dem Verlauf der Wiedervereinigung des Landes. "Diese Menschen begreifen jetzt, dass sie im sozialen Bereich, in Bezug auf Kapital, Industrie und Arbeitsplätze betrogen wurden. Das heißt, die Wiedervereinigung als solche hat nicht stattgefunden. Diese Täuschung wird in erster Linie den Vereinigten Staaten angelastet, so dass es in Ostdeutschland einen starken Antiamerikanismus gibt, der materiell gerechtfertigt ist", so meint der Journalist weiter.

Der Autorin des Spectator-Artikels zufolge hat die prorussische Stimmung unter den Ostdeutschen nichts mit Nostalgie für Zeiten der Berliner Mauer zu tun. Mehr als drei Jahrzehnte sind seit der Wiedervereinigung im Jahr 1990 vergangen, und Umfragen haben wiederholt gezeigt, dass die Mehrzahl der ehemaligen DDR-Bürger durchaus Veränderungen zum Besseren empfindet. Hoyer ist davon überzeugt, dass die Antwort in der ferneren Vergangenheit zu suchen ist, als Deutschland in dem Bestreben, seine Nachbarn zu beherrschen, oft geheime Absprachen eingegangen habe. Die Historikerin spielt wahrscheinlich auf den Nichtangriffspakt zwischen Deutschland und der Sowjetunion von 1939 an, der auch als Molotow-Ribbentrop-Pakt bekannt ist, und auf das ihm beigefügte geheime Zusatzprotokoll über die Aufteilung der Interessensphären zwischen den Parteien.

"Die Ostdeutschen teilen also nicht das Gefühl einer existenziellen Bedrohung (durch Russland). Obwohl die Stasi-Jahre tiefe psychologische Spuren bei den Ostdeutschen hinterlassen haben, haben sie nicht zu einer dauerhaften Neubewertung der Rolle Russlands in Europa geführt. Ihrer Ansicht nach haben die Sowjets sie vom Nationalsozialismus befreit. Deutschland ist unfair gegenüber Russland, nicht umgekehrt", schreibt Hoyer.

Kamkin ist jedoch überzeugt, dass die derzeitige antirussische Hysterie, die von der herrschenden politischen Klasse und den Massenmedien verbreitet wird, auf kein Verständnis bei vielen Menschen in der Bundesrepublik und insbesondere in Ostdeutschland stößt, denn von 1949 bis 1990 waren dort die UdSSR und die DDR natürliche Verbündete. "In all diesen Jahren fand ein intensiver, kultureller Bildungsaustausch statt. Sogar die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel war in ihrer Jugend für mehrere Praktika in der Sowjetunion durch die Freie Deutsche Jugend (FDJ), den 'Komsomol der DDR' ", erinnert der Experte.

Außerdem wurde eine "Entnazifizierung" in Deutschland auf sehr unterschiedliche Weise vollzogen. In Westdeutschland besetzten sehr bald frühere Nazi-Verbrecher wieder staatliche und andere Positionen, während diese Prozesse in Ostdeutschland viel "komplexer und tiefgreifender" waren.

"Nach der deutschen Vereinigung sind die Bürger Ostdeutschlands zu Menschen zweiter Klasse geworden, da eine große Anzahl von Unternehmen in Konkurs ging und geschlossen wurde. In den 1990er Jahren lag die Arbeitslosenquote bei 25-30 Prozent. Viele Menschen zogen um jeden Preis in den Westen. Selbst Migranten wollten sich nicht in diesen Regionen niederlassen, sondern zogen das wohlhabendere Westdeutschland vor. All dies führte zu einer sozialen Schichtung und einem gewissen Sozialneid der Ostdeutschen gegenüber den Westdeutschen", so Kamkin.

Hoyer weist auch darauf hin, dass viele Ostdeutsche neben ihrer eigenen auch gerne die russische Kultur konsumierten. Sie lasen russische Literatur, lernten die russische Sprache und reisten in die Sowjetunion. "Während des gesamten Kalten Krieges blieben die Russen für den Westen gesichtslose Feinde, während die Ostdeutschen Beziehungen zu ihnen aufbauten. Heute fällt es ihnen schwer, sie als Feind zu betrachten", betont die Historikerin.

Ihrer Meinung nach erinnern sich die Ostdeutschen daran, dass es die UdSSR war, die die Welt vom "Nationalsozialismus" befreit hat. Sie verwies auf die jüngsten Äußerungen der Linkspartei-Abgeordneten Sahra Wagenknecht, wonach die Lieferung von Waffen an die Ukraine eine "von den USA betriebene Politik" sei, die ihre provokante Rolle bereits lange in der Vorgeschichte der russischen Sonderoperation in der Ukraine gespielt habe.

Solche Ansichten sind nicht nur unter linken Politikern in Ostdeutschland verbreitet. Die Partei am rechten Rand, die AfD, die im Osten viel Unterstützung hat, ist gegen antirussische Sanktionen und gegen die Lieferung von Waffen an Kiew. Auch in Westdeutschland gibt es eine Anti-NATO-Stimmung. Im Februar erklärte die Abgeordnete Sevim Dağdelen, das Verhalten der Ukraine komme einer Kriegserklärung an Russland gleich und sei das Ergebnis der "Kriegstreiberei" der USA und der NATO. Die erfahrene Frauenrechtlerin Alice Schwarzer äußerte die Überzeugung, dass der russische Präsident Wladimir Putin ein "Motiv zum Handeln" erhalten habe.

Der heutige deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz vertrat zu Beginn seiner politischen Laufbahn ebenfalls eine Anti-NATO-Position. Im Jahr 1982, als er gerade stellvertretender Bundesvorsitzender der Jusos geworden war, argumentierte der heutige Bundeskanzler, dass das Wettrüsten durch "die aggressive imperialistische Strategie der NATO" angeheizt werde. Jetzt fordert er eine Erhöhung der Verteidigungsausgaben um 100 Milliarden Euro und den Kauf von modernen US-Kampfjets des Typs F-35.

Wolkow fügt hinzu, dass es im östlichen Teil des Landes immer noch viele Menschen gebe, deren Bildung auf anderen Prinzipien beruht als in Westdeutschland, vor allem auf anderen Methoden des Geschichtsunterrichts. "Die Ostdeutschen sehen die Ereignisse anders als die Westdeutschen", sagt der Journalist.

Auch gibt es in diesem Teil des Landes einen stärkeren Einfluss der linken und rechten Parteien und einen weitaus geringeren Einfluss der "Grünen", die jetzt "absolute Vertreter der extremen Idee in Bezug auf Russland" sind. "Die linken Politiker sind viel stärker prorussisch orientiert. Sie wissen, dass der derzeitige Konflikt in erster Linie mit dem Vorgehen der USA zusammenhängt. Die Rechten sind auch eher prorussisch orientiert, weil ihr liberales Umfeld und die absolute Duldung der Migration der letzten Jahre die Deutschen sehr verärgert hat", erklärt der Gesprächspartner.

Darüber hinaus ist die Antikriegsstimmung in den neuen Bundesländern stark ausgeprägt. Besonders deutlich wurde dies im Februar 2020 bei der größten NATO-Übung seit 25 Jahren, für die große Kontingente des US-Militärs den Atlantik überquerten.

Kamkin stellt fest, dass das Phänomen einer gespaltenen Gesellschaft auf die Gefühle der einfachen Deutschen gegenüber Russland zurückzuführen ist. Politikwissenschaftler haben den Dualismus zwischen Ostdeutschen und Westdeutschen bereits anschaulich definiert: Während Erstere lieber ihre nationale Identität bewahren, benehmen sich Letztere eher wie deutschsprachige Amerikaner.

"Die Teilung in Ost- und Westdeutsche, die so genannten Ossi und Wessis, ist noch nicht ganz überwunden. Die Amerikanisierung ist im Westen viel weiter fortgeschritten als im Osten des Landes, wo noch der Geist aus der Zeit Otto von Bismarcks zu spüren ist, der geschworen hat, niemals in den Krieg mit Russland zu ziehen", betont der Politikwissenschaftler.

Übersetzt aus dem Russischen, dieser Artikel erschien zuerst bei VZ.ru. in der Zeitung Wsgljad

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