Europa

"Kollaboration" – Kiew führt Säuberungen im Gebiet Charkow durch

Menschen, die in von den russischen Truppen kontrollierten Teilen des Gebietes Charkow weiter ihrer Arbeit nachgingen, sieht Kiew als Kollaborateure an. Nach dem Abzug der russischen Armee terrorisieren nun ukrainische Geheimdienstler und Sicherheitsbeamte die eigene Bevölkerung.
"Kollaboration" – Kiew führt Säuberungen im Gebiet Charkow durch© AP Photo/Evgeniy Maloletka

Von Elisaweta Koroljowa

Mindestens 500 Einwohner des Gebietes Charkow wurden von den ukrainischen Behörden wegen möglicher Verbindungen zu Russland festgenommen oder inhaftiert. Dies teilten Menschenrechtsaktivisten gegenüber RT mit. Der Grund für den Vorwurf der Kollaboration sei die Tatsache, dass die Menschen in der Zeit, als die russischen Truppen Teile des Gebietes Charkow kontrollierten, weiterhin in ihren Berufen arbeiteten. So inhaftierte der ukrainische Geheimdienst SBU beispielsweise Lehrer, weil sie ukrainische Kinder auf Russisch unterrichteten.

Die Bürgerrechtler aus dem Gebiet Charkow haben die russische Ombudsfrau für Menschenrechte, Tatjana Moskalkowa, aufgefordert, die betroffenen Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes und der Militär- und Zivilverwaltung der Region als Teilnehmer an der militärischen Sonderoperation anzuerkennen. Mit diesem Status kann Russland sie wie Kriegsgefangene tauschen und aus den ukrainischen Gefängnissen holen.

Die Vereinigung zur Unterstützung und Förderung der Integration von Opfern des Kiewer Regimes, "Unser Charkow", hat einen entsprechenden Appell an das Büro des Menschenrechtsbeauftragten der Russischen Föderation gerichtet. Die Autoren weisen darauf hin, dass die Mitarbeiter der prorussischen Militär- und Zivilverwaltung im Gebiet Charkow zwar keine Soldaten waren, aber "unter den Bedingungen der militärischen Sonderoperation" arbeiteten. In dem Appell heißt es unter anderem:

"Zum Zeitpunkt der Gründung der regionalen Militär- und Zivilverwaltung [des Gebietes Charkow] bestand die Hauptpersonalreserve aus aktiven prorussischen Bürgern der Ukraine, Russlands und der Donbass-Republiken, die von den ersten Tagen an bereit waren, das Leben mitzugestalten und die Rechte der Bewohner der befreiten Gebiete der Region Charkow zu schützen."

Tausende potenzielle Gefangene

Juri Schewtschenko, der ehemalige Leiter der territorialen Militär- und Zivilverwaltung in Balakleja und Mitbegründer der Vereinigung "Unser Charkow", berichtete, dass unter den Ukrainern, die von Kiew des Verrats und der Kollaboration beschuldigt werden, auch Staatsbedienstete sind, die unter russischer Kontrolle weiterhin ihrer Arbeit nachgegangen sind. Er erklärte gegenüber RT:

"Die Säuberungsaktionen in der Region Charkow gehen weiter: Jeden Tag erhalten wir Berichte über die Eröffnung von Strafverfahren gegen eine oder mehrere Personen. Es hat auch bereits mehrere Verurteilungen gegeben: von fünf bis acht Jahren Gefängnis. Für den Vorwurf der Verbindungen zu Russland reicht es aus, dass eine Person einfach in ihrem Job als Staatsbediensteter weiterarbeitete – als Arzt, Lehrer, Kulturarbeiter oder Angestellter des Wohnungs- und Versorgungssektors."

Laut Schewtschenko waren allein in der territorialen Verwaltung von Balakleja mehr als 1.000 Menschen als Staatsbedienstete tätig. Zählt man weitere Angestellte hinzu, die während der russischen Kontrolle aus dem russischen Haushalt bezahlt wurden, das heißt in den Augen Kiews mit Russland kooperierten, so beläuft sich ihre Zahl auf über 5.000.

In den befreiten Gebieten gab es beispielsweise mehr als 4.500 Strafverfolgungsbeamte und Eisenbahner und mindestens 2.700 Arbeiter im Energie- und Versorgungssektor, so Schewtschenko. Er fügte hinzu:

"Unseren Daten zufolge sind mehr als 500 Angestellte der Militär- und Zivilverwaltung und mehr als 1.000 Beschäftigte des öffentlichen Sektors nach Russland gegangen. Der Rest der Menschen ist dort [im Gebiet Charkow] geblieben. Mindestens 500 Menschen in der Region Charkow wurden festgenommen, verhaftet oder wegen Verbindungen zu Russland verurteilt. All diese Menschen werden von Kiew gefangen gehalten. Sie dürfen nicht ausgetauscht werden, da sie keine Kriegsgefangenen sind und es äußerst schwierig ist, Zivilisten auszutauschen."

Seiner Meinung nach würde die Vergabe des Status eines Teilnehmers der militärischen Sonderoperation für Mitarbeiter der Militär- und Zivilverwaltung sowie für Mitarbeiter anderer Bereiche, die Geld aus dem Staatsbudgets Russlands erhalten haben, dabei helfen, Menschen, die Russland unterstützen und bereits unter Repressionen durch die ukrainischen Behörden gelitten haben, aus den Untersuchungsgefängnissen und Strafkolonien der Ukraine zu befreien.

"Nun giltst du als Kollaborateurin"

Wie RT herausfand, richteten sich die Säuberungsaktionen Kiews im Gebiet Charkow aber nicht nur gegen die Leiter von Institutionen, die Geld aus dem Staatsbudgets Russlands erhielten, und diejenigen, die das russische Militär offen unterstützten, sondern auch gegen einfache Einwohner, die unter der russischen Kontrolle weiterhin in ihren Städten arbeiteten und lebten.

RT sprach unter anderem mit einer Zivilistin aus Kupjansk, deren Ehemann immer noch in Untersuchungshaft sitzt. Die Frau selbst versteckte sich mehrere Monate lang vor dem SBU und konnte schließlich nach Russland ausreisen.

Marina K. gelang es nicht, vor der Ankunft der ukrainischen Truppen nach Russland auszureisen. Unter russischer Kontrolle arbeitete die Frau im städtischen Krankenhaus als Krankenschwester und kümmerte sich auch um verwundete russische Soldaten. Ihr Mann diente bei der Polizei und bewachte die örtliche Dienststelle.

An dem Tag, als Kupjansk von der ukrainischen Armee besetzt wurde, wollten sie und ihr Mann in Richtung Russland fliehen. Doch während Marina ihre alten Eltern auf der anderen Seite des Flusses Oskol noch einmal besuchte, sprengten die ukrainischen Truppen die Brücken in die Luft.

Marina berichtete, dass ab Anfang Oktober SBU-Beamte aus Charkow nach Kupjansk kamen und begannen, Angestellte des öffentlichen Sektors wegen ihrer "Zusammenarbeit mit Russland" zu verhaften. Sie schilderte die Ereignisse:

"Sie kamen zu unserem Haus, als es schon fast dunkel war – wir aßen bei Kerzenlicht zu Abend, denn zu dieser Zeit gab es in der Stadt kein Licht. Sechs Männer mit Maschinengewehren kamen herein, mein Mann und ich wurden in die Knie gezwungen, unser siebenjähriges Kind wurde in ein anderes Zimmer gebracht. Sofort begannen sie, unsere Sachen zu durchsuchen, die Schränke zu durchwühlen und alles auf den Kopf zu stellen. Sie fragten mich: 'Hast du mit Russland zusammengearbeitet, wurdest du bezahlt?' Ich sagte: 'Ja, das wurde ich.' Sie sagten zu mir: 'Es wäre besser gewesen, wenn du das Geld nicht genommen hättest. Nun giltst du als Kollaborateurin.' Aber da ich medizinisches Personal bin, konnten sie mich gemäß der Genfer Konvention nicht mitnehmen."

Ihr Mann hingegen wurde vom SBU abgeführt und drei Tage lang in einer Isolierzelle festgehalten. Später erzählte er seiner Frau, dass er gefoltert und befragt wurde, wo sich der Bürgermeister der Stadt von der Militär- und Zivilverwaltung aufhalte, der zuvor in leitenden Positionen bei der Polizei gearbeitet hatte. Doch der Mann wusste nichts davon.

"Mein Mann wurde schwer zusammengeschlagen – er schaffte es nur noch mit Mühe nach Hause", erinnerte sich Marina.

Die Familie lebte bis zum Jahreswechsel in ständiger Anspannung und Angst. Im Januar kam der SBU erneut, und diesmal nahmen sie Marinas Mann endgültig mit.

"Zu diesem Zeitpunkt hatten sie bereits Listen (der Angestellten), und außerdem begannen einige Einheimische, sich gegenseitig zu verraten. Viele Menschen wurden abgeführt: Ich persönlich kenne fünf Personen, die vom SBU verhaftet wurden. Alle hatten naiverweise gehofft, sie kämen ungeschoren davon, aber das war nicht der Fall. Die ganze Zeit liefen ukrainische Soldaten in der Stadt herum und drangen in Häuser und Wohnungen ein – ich habe das selbst gesehen, als ich meine Eltern besuchte."

Nach der Verhaftung ihres Mannes beschlagnahmten die SBU-Beamten Marinas Pass, ihr Telefon und persönliche Gegenstände. Mehrfach seien Militärangehörige in ihr Haus gekommen und hätten überprüft, ob sie zu Hause ist oder nicht. Dann wurde ihr klar, dass sie und ihr Kind das Haus verlassen mussten.

"Ich hatte Videos auf meinem Handy: Ich habe gefilmt, wie Häuser in der Stadt zerstört wurden und dass die Soldaten Tote auf der Straße zurückließen. Ich weiß nicht, warum ich das getan habe. Ich hatte Hass, eine Art Wut. Ich bin nicht gegen die Ukraine, ich bin gegen dieses ukrainische Regime. Ehrlich gesagt: Als die Russen kamen, war ich nicht glücklich, aber ich hatte auch keinen Hass auf sie. Die russischen Soldaten kamen ruhig in die Stadt herein. Sie töteten niemanden, belästigten niemanden, terrorisierten niemanden. Sie zwangen niemanden zu irgendetwas. Alles war ruhig und gelassen. Allmählich gab es Arbeit, Geschäfte wurden eröffnet, wir bekamen Strom und Telefon und das Leben begann sich zu verbessern. Und dann, im September, kamen die ukrainischen Truppen: Sie sperrten alles ab und begannen, uns zu schikanieren", erzählt Marina.

Im Winter reiste Marina mit ihrem Kind nach Charkow und dann weiter nach Polen. Von dort aus konnte die Frau nach Russland reisen. Sie hat sich nun in einer der russischen Regionen niedergelassen, obwohl sie dort keine Verwandten oder Bekannten hat – geholfen wurde ihr von Freiwilligen und Mitarbeitern der Militär- und Zivilverwaltung von Charkow.

Marinas älterer Sohn konnte Kupjansk ebenfalls verlassen, aber da er erwachsen ist, darf er aus der Ukraine nicht ausreisen. Ihr zufolge versteckt sich ihr Sohn jetzt, um nicht in die ukrainische Armee eingezogen zu werden, und arbeitet inoffiziell, weil es unmöglich ist, ohne Militärausweis irgendwo einen Job zu finden.

Mehrmals konnte Marina sogar ihren Mann anrufen, der jetzt in Untersuchungshaft sitzt. Die ukrainischen Behörden haben ihn wegen seiner Arbeit bei der Polizeiwache des Hochverrats beschuldigt; ihm drohen bis zu 15 Jahre Gefängnis.

"Ich hoffe sehr, dass mein Mann ausgetauscht wird und nach Russland, zu uns, kommen kann. Ich weiß, dass er bereits auf der Austauschliste steht, aber es ist noch unklar, wann der Austausch stattfinden wird", sagte Marina.

Zehn Jahre Haft für Unterricht auf Russisch

Die ukrainischen Behörden führen in der Region Charkow nach wie vor Säuberungsaktionen gegen Zivilisten durch – die Generalstaatsanwaltschaft der Ukraine veröffentlicht regelmäßig Berichte über Verhaftungen.

Im Januar dieses Jahres wurde beispielsweise der 45-jährige Leiter des Stromversorgungsunternehmens Charkowoblenergo im Bezirk Balakleja festgenommen. Er wird der Kollaboration verdächtigt, weil er "den Betrieb von Stromverteilungsnetzen auf dem besetzten Gebiet des Bezirks organisiert" hat.

Ähnliche Vorwürfe erhob Kiew in diesem Frühjahr gegen einen 31-jährigen Lehrer aus dem Dorf Jurtschenkowo im Bezirk Tschugujewski, der zugleich Direktor der örtlichen Schule war. In den ukrainischen Ermittlungen wurde er nach Artikel 111-1 des ukrainischen Strafgesetzbuches (Kollaboration) angeklagt, weil er sich bereit erklärt hatte, die Schule zu leiten und die Kinder auf Russisch und nach russischen Bildungsstandards zu unterrichten. Darüber hinaus half er den Lehrern, vor Beginn des Schuljahres an Auffrischungskursen in Belgorod teilzunehmen.

Im Bezirk Kupjansk wurde Anklage gegen den 48-jährigen Wladimir Knysch erhoben, der 20 Jahre lang als Direktor des Krugljakowski-Lyzeums tätig war. Laut den Kiewer Behörden habe er ebenfalls sein Heimatland verraten, als er Kinder auf Russisch unterrichtete und seine Kollegen zur Verbesserung ihrer Qualifikationen nach Kursk schickte. Nach Artikel 111-1 Teil 3 des ukrainischen Strafgesetzbuches drohen ihm bis zu drei Jahre Strafkolonie und der Entzug der Lehrbefugnis für 10 bis 15 Jahre.

Juri Schewtschenko versprach, dass er und seine Kollegen sich dafür einsetzen werden, dass nicht nur die Mitarbeiter der Militär- und Zivilverwaltung von Charkow, sondern auch diejenigen, die in der Region im öffentlichen Sektor gearbeitet haben, den Status von Teilnehmern der militärischen Sonderoperation erhalten können. Diese Personen hätten dann die Möglichkeit, durch einen Austausch freigelassen zu werden.

Übersetzt aus dem Russischen.

Elisaweta Koroljowa ist eine Redakteurin und Analystin der russischen Redaktion von RT.

Mehr zum Thema"Lästige Russlandfixierung" – ZEIT rechnet mit deutschem Geschichtsbild ab

RT DE bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.

Durch die Sperrung von RT zielt die EU darauf ab, eine kritische, nicht prowestliche Informationsquelle zum Schweigen zu bringen. Und dies nicht nur hinsichtlich des Ukraine-Kriegs. Der Zugang zu unserer Website wurde erschwert, mehrere Soziale Medien haben unsere Accounts blockiert. Es liegt nun an uns allen, ob in Deutschland und der EU auch weiterhin ein Journalismus jenseits der Mainstream-Narrative betrieben werden kann. Wenn Euch unsere Artikel gefallen, teilt sie gern überall, wo Ihr aktiv seid. Das ist möglich, denn die EU hat weder unsere Arbeit noch das Lesen und Teilen unserer Artikel verboten. Anmerkung: Allerdings hat Österreich mit der Änderung des "Audiovisuellen Mediendienst-Gesetzes" am 13. April diesbezüglich eine Änderung eingeführt, die möglicherweise auch Privatpersonen betrifft. Deswegen bitten wir Euch bis zur Klärung des Sachverhalts, in Österreich unsere Beiträge vorerst nicht in den Sozialen Medien zu teilen.