Der 7. Oktober – ein vorläufiges Resümee
Von Dagmar Henn
So einfach, wie das in Deutschland erzählt wird, mit der bösen Terrororganisation Hamas gegen das gute Israel, ist die Geschichte nicht. Im Gegenteil, der erste Blick führt völlig in die Irre. Zumindest Teile der Geschichte werden in anderen Ländern durchaus benannt. In India Today beispielsweise, oder selbst im kanadischen Sender CBC, beide mit einer ganzen Fülle von Zitaten und Belegen. Allerdings kann man die Geschichte durchaus noch ein Stück weiter zurückverfolgen, wenn man die Ursprünge der Muslimbruderschaft betrachtet.
Eine Berliner Erfindung
Die Muslimbruderschaft ist der Ursprung einer ganzen Reihe politischer Organisationen in verschiedenen Ländern. Sie stellte in Ägypten nach dem "arabischen Frühling" die Regierung, bis sie vom Militär gestürzt wurde. Sie ist der Ursprung der türkischen AKP, der Partei des türkischen Regierungschefs Erdoğan. Eine der einflussreichsten Organisationen im Nahen Osten, aber keine Organisation, die ganz von alleine entstand.
Tatsächlich war die Muslimbruderschaft ebenso sehr das Instrument des Auswärtigen Amtes in Berlin, wie die Wahabiten und das Haus Al-Saud das der Briten waren. Wenn beispielsweise gerne der Großmufti von Jerusalem aus den 1940ern zitiert wird, um arabischen Antisemitismus zu belegen, handelt es sich um einen Vertreter der Muslimbruderschaft mit engen Verbindungen nach Berlin, und nicht um einen durch und durch authentischen Vertreter seiner Glaubensgemeinschaft.
Wer die unterschiedlichen Legenden kennt, weiß, dass sich vielfach solche Strukturen mit authentischen Bewegungen vermischt haben. Dazu genügt es, den Film "Lawrence von Arabien" anzusehen, der Anfang des 20. Jahrhunderts spielt. Die Aufstände, die er im britischen Auftrag anführte, hatten vor allem den Zweck, den Franzosen ihre Kolonien abzunehmen – und in britische zu verwandeln. Auf die gleiche Art und Weise nutzte das Auswärtige Amt die Muslimbrüder, um die britische Macht zu unterminieren. Nicht mit der Absicht, eine wirkliche Souveränität zu ermöglichen, sondern, sich die Herrschaft über diese Gebiete selbst anzueignen.
Der Übergang der auswärtigen Kontrolle über die Muslimbrüder an die Vereinigten Staaten erfolgte erst nach dem Zweiten Weltkrieg, und nicht vollständig. In der alten Bundesrepublik setzte Gerhard von Mende die Betreuung dieser Organisation fort, für die er bereits im Amt Rosenberg der Nazis zuständig gewesen war.
Interessanterweise spielt bei der Internationalisierung dieser Organisation ausgerechnet eine Moschee in München-Freimann eine zentrale Rolle. Es gibt ein Buch eines US-amerikanischen Journalisten zu diesem Thema, "Die vierte Moschee" von Ian Johnson, das diese Geschichte nachzeichnet; auch wenn man, ähnlich wie bei den Bandera-Nazis, annehmen sollte, dass die deutsche Verbindung trotz der starken Beteiligung der CIA nie abgerissen ist.
Netanjahus Spaltungsmanöver
Als Teil der Muslimbruderschaft ist natürlich auch die Hamas Teil dieser Geschichte, auch wenn die neueren Details, die etwa India Today anführt, noch etwas bizarrer sind als die Verquickung mit Berliner Machtpolitik. Die indische Tageszeitung fragt:
"Warum Netanjahu geholfen hat, die Hamas zu finanzieren, und wie das gegen Israel zurückschlug."
Ja, es war der heutige israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu persönlich, der im Vorlauf zu den Wahlen im Westjordanland und im Gazastreifen im Jahr 2006 alles dafür tat, die Hamas zu stärken. Erst vor einigen Monaten zitierte ihn die Jerusalem Post mit einer Aussage, die er damals in einer geschlossenen Sitzung eines israelischen Parlamentsausschusses machte:
"Die palästinensischen Hoffnungen, einen souveränen Staat zu errichten, müssen ausgelöscht werden."
Das Mittel der Wahl, um eine Umsetzung der Oslo-Abkommen, die Netanjahu immer abgelehnt hat, zu verhindern, war die Zerstörung der politischen Einheit der Palästinenser, indem in Gaza die Hamas als "Gegengewicht" zur PLO aufgebaut wurde. Hamas und Netanjahu, so schrieb selbst die New York Times noch im Mai 2021, "sind jeweils des anderen wertvollster Partner (…) seit Netanjahu 1996 zum ersten Mal gewählt wurde – im Gefolge einer Welle von Selbstmordanschlägen der Hamas."
Der ehemalige Chef des saudi-arabischen Geheimdienstes, Prinz Turki-al-Faisal, erklärte Ende Oktober, selbst die heutige Finanzierung der Hamas aus Katar erfolge nicht nur mit Billigung, sondern unter aktiver Mitwirkung israelischer Behörden:
"Die Gelder werden elektronisch nach Israel überwiesen, woraufhin israelische und UN-Beschäftigte sie zu Fuß über die Grenze nach Gaza tragen."
Nun sollte man dabei nicht vergessen, dass es eine Rivalität zwischen Katar und Saudi-Arabien gibt, die letztlich auf die alte Konkurrenz zwischen den Wahabiten und den Muslimbrüdern zurückgeht, seine Aussage also nicht unbeinflusst von eigenem Interesse ist. Aber es hat sich bis heute nichts daran geändert, dass Netanjahu und seine Bündnispartner ein aktives Interesse daran haben, zwar irgendwie eine Art politischer Vertretung der Palästinenser sowohl im Westjordanland als auch in Gaza aufrechtzuerhalten, weil ihr Verschwinden die ganze Frage eines Endes der Besatzung neu aufwerfen würde, aber gleichzeitig dafür zu sorgen, dass diese Vertretung möglichst schwach bleibt.
Ähnlich berichtet das aber auch die Times of Israel:
"Israel hat es seit 2018 erlaubt, das Koffer mit Millionen aus Katar die Grenze nach Gaza überqueren, um seinen fragilen Waffenstillstand mit der Hamas, die dort regiert, zu bewahren."
Und zieht dann ein Fazit, bezogen auf den 7. Oktober:
"Eines ist klar: das Konzept, die Hamas indirekt zu stärken – während man gelegentliche Angriffe und kleinere Militäreinsätze alle paar Jahre hinnimmt – ging am Samstag in Rauch auf."
Die Grenzen politischer Einflussnahme
Niemanden dürfte es mehr wundern, dass sich gerade im Nahen Osten, mit seiner Bedeutung als Ölquelle, die Fäden politischer Einflussnahme vielfach kreuzen und verknoten, und dass sich dort genau das gleiche Phänomen externer politischer Kontrolle findet, das man auch in Deutschland in Gestalt von Astroturfing und dutzenden Stiftungen beobachten kann, nur in anderer Gestalt. Aber es gibt noch einen weiteren Punkt, den man berücksichtigen muss, der den Bemühungen, auf diese Weise politische Entwicklungen zu kontrollieren und zu instrumentalisieren, entgegensteht.
Es gibt eine ganze Reihe historischer Beispiele, wie solche Versuche scheitern oder manchmal sogar das Gegenteil bewirken können. Khomeinis Exil in Frankreich war auch ein französischer Schachzug gegen die damals den Iran kontrollierenden US-Amerikaner, aber es entstand dennoch eine reale Bewegung der iranischen Bevölkerung und am Ende eine Staatsgewalt, auf die die ursprünglichen Förderer keinen Einfluss mehr hatten. Ähnlich scheiterten 1917 die deutschen Versuche, den Briten ihre russische Beute abzujagen – am Ende von Oktoberrevolution und Bürgerkrieg stand ein tatsächlich souveräner Staat, und beide Räuber hatten verloren.
Die Wahrscheinlichkeit, dass Bemühungen, die der Absicht folgen, ein Land zu kontrollieren oder von der Konkurrenz zu übernehmen, scheitern und, gewissermaßen versehentlich, das Entstehen einer realen Bewegung der Bevölkerung fördern, steigt in Zeiten großer Krisen deutlich. Die Strategie, nach der vor dreizehn Jahren der "arabische Frühling" angezettelt wurde, ist heute um ein Vielfaches riskanter, als sie es damals war, weil die globalen Machtverhältnisse im Umbruch sind.
Das, und nicht die Liste tatsächlicher oder vermeintlicher Sponsoren, macht es so schwierig, tatsächlich zu definieren, welche Rolle die Hamas derzeit einnimmt. Rechtlich und diplomatisch ist sie für jene, die den Staat Palästina anerkennen, die legitime Vertretung der Bevölkerung von Gaza, schlicht, weil sie 2006 die Wahlen gewonnen hat.
Aber politisch kann sie sich durchaus im Übergang von einem israelischen Instrument zu einer echten Bewegung palästinensischen Widerstands befinden. Veränderungen verlaufen nicht nur in der Richtung, dass politische Bewegungen saturiert werden und ihre Ziele verraten; sie können auch so verlaufen, dass sich, aufgrund der Wucht, die die gesellschaftlichen Widersprüche angenommen haben, eine ursprünglich leere Hülle mit Inhalt füllt.
Die Wahrheit ist unbekannt
Augenblicklich sagt jedenfalls die Verwicklung von Benjamin Netanjahu in den Aufstieg der Hamas mehr über die israelische Politik aus als über die Hamas. Und so gut wie alle Fragen, wie und warum der 7. Oktober möglich war und was dabei wirklich geschehen ist, sind nach wie vor unklar. Die politische Führung der Hamas hat mittlerweile eine internationale Untersuchung gefordert.
Es finden sich deutliche Hinweise, dass die israelische Führung nicht halb so ahnungslos gewesen sein konnte, wie sie es dargestellt hat. Dazu gehören sowohl die ägyptische Meldung, Netanjahu sei persönlich vom ägyptischen Geheimdienst gewarnt worden, als auch Berichte, dass die israelischen Stellungen an der Grenze des Gazastreifens ungewöhnliche Aktivitäten gemeldet hatten, aber keine Reaktion darauf erfolgte. Und darüber hinaus gibt es auch Zweifel daran, wie weit die Darstellung der Ereignisse durch die israelische Regierung zutrifft.
Der Journalist Max Blumenthal hat Ende Oktober einen sehr ausführlichen Artikel auf The Grayzone veröffentlicht, in dem er unzählige Zeugenaussagen und Berichte bündelte, die aus der israelischen Presse stammen. Aussagen, wonach vielfach die israelische Armee für den Tod von Zivilisten verantwortlich war, für die die Hamas verantwortlich gemacht wurde.
"Die zunehmenden Belege für freundliches Feuer, die von Kommandeuren der israelischen Armee weitergegeben werden, machen es sehr wahrscheinlich, dass die erschütterndsten Bilder verkohlter israelischer Leichen, israelische Häuser, die in Schutthaufen verwandelt wurden, und ausgebrannter Fahrzeuge, die den westlichen Medien präsentiert wurden, tatsächlich das Werk von Panzerbesatzungen und Hubschrauberpiloten waren, die israelisches Gebiet mit Granaten, Kanonenbeschuss und Hellfire-Raketen eindeckten.
Tatsächlich entsteht der Eindruck, dass am 7.Oktober das israelische Militär mit der gleichen Taktik reagierte, die es gegen die Zivilbevölkerung von Gaza einsetzt, und durch den unterschiedslosen Einsatz schwerer Waffen den Blutzoll unter den eigenen Bürgern in die Höhe trieb."
Nachdem es keine internationale Untersuchung geben wird, zumindest nicht, solange die Regierung Netanjahu in Israel im Amt ist, gibt es keinen Weg, derzeit die vielen Zweifel zu klären. Vielleicht gibt es irgendwann einmal einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss, der dieses Dickicht durchdringen kann. Nicht nur die Bewertung der Organisation Hamas ist unklar, auch die tatsächlichen Ereignisse, die als Begründung für den Angriff auf Gaza dienen. Nur ein einziger Punkt ist sicher – das Bestreben, israelische Bürger als Geiseln zu nehmen, ist eine Reaktion auf tausende Palästinenser, darunter Kinder, die in israelischen Gefängnissen sitzen und oftmals auch nichts anderes sind als Druckmittel, um ihre Familien zu Gehorsam zu zwingen, also ebenfalls Geiseln.
Ein Weg durch den Nebel
Nun ist klar, dass man unter solchen Umständen nicht sagen kann: "Wir warten einfach so lange, bis in allen Punkten die Wahrheit klar ist." Gerade, wenn Handlungen stattfinden, die man zu Recht als Genozid bezeichnen kann. Klar ist aber ebenfalls, dass jede emotionale Reaktion in die Irre führen kann, weil sie notwendigerweise auf unvollständiger Information beruht.
Die mögliche Handlung besteht tatsächlich darin, auf die Einhaltung des Völkerrechts und humanitärer Grundsätze zu drängen. Dabei würde ein Waffenstillstand (nicht die kleine Kampfpause, die sich die Führung der Vereinigten Staaten so vorstellt) auch, und das ist nicht unwichtig, die Möglichkeit schaffen, dass die israelische Öffentlichkeit die Gelegenheit erhält, sich mit den aufgelaufenen Zweifeln auseinanderzusetzen und von der Regierung Netanjahu Rechenschaft zu fordern; was allerdings einen weiteren Grund liefert, warum der bereits durch ein Korruptionsverfahren bedrängte Netanjahu genau daran kein Interesse hat.
Was, wenn sich letztlich erweist, dass die Regierung Netanjahu die Ereignisse des 7. Oktober wissentlich gebilligt hat? Was, wenn sich herausstellen sollte, dass die zivilen Opfer in Israel weitgehend auf das Konto der israelischen Armee gehen? Was, wenn am Ende als Vorwurf gegen Hamas nur die Gefangennahme israelischer Bürger zum Zwecke des Austauschs übrig bleibt? Oder anders herum, wenn die alten Beziehungen zwischen Hamas und Netanjahu der Auslöser der ganzen Kette von Ereignissen waren, sie also gewissermaßen im Auftrag erfolgten? Oder es, über welche Verbindung auch immer, schlicht den Vereinigten Staaten darum ging, wieder einmal eine Runde Unruhe zu stiften? In jedem dieser Fälle führt eine Parteinahme für die politischen Strukturen, gleich auf welcher Seite, in die Irre.
Aber übrig bleiben die Anforderungen der Humanität, und eine Unterstützung jedes Bestrebens, Klarheit zu schaffen. Wenn man diesen Regeln verpflichtet bleibt, kann man selbst in langen Phasen der Unklarheit so handeln, dass für die Zukunft kein Schaden angerichtet wird. Eine Haltung, die zwar Russland und China einzunehmen vermögen, für die dem Westen aber sowohl Wille als auch Einsicht abgehen.
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