Nahost

Letzte Warnung an Israel – Krieg gegen Gaza kann zum letzten Weltkrieg führen

Der jahrzehntelange Unwille des ausgelagerten 51. US-Bundesstaates Israel, dem Volk Palästinas entweder einen eigenen Staat auf dessen eigenem Boden zuzugestehen oder aber es in einen Zweivölkerstaat aufzunehmen, droht nun, sich in einem weitaus größerem Krieg zu entladen als zuvor.
Letzte Warnung an Israel – Krieg gegen Gaza kann zum letzten Weltkrieg führenQuelle: Sputnik © Jekaterina Tschesnokowa

Von Pjotr Akopow, RIA Nowosti

Israels und Palästinas erneut entbrennender Krieg betrifft die gesamte Weltgemeinschaft – ganz gleich, mit wem man sympathisiert und wie weit weg man sich vom Gazastreifen befindet. Denn hier haben wir es nicht bloß mit einem der vielen Brennpunkte zu tun (auch wenn es der älteste ist) – sondern mit einem Problem, das wortwörtlich die ganze Welt in die Luft jagen kann. Und weder der Ukraine-Konflikt noch der noch hypothetische Krieg um Taiwan kann hier im Hinblick auf den Maßstab der Bedrohungen und der Konzentration von Widersprüchen und Zwist mithalten.

Wie die christliche Deutung der Welt mehrere Stufen kennt, so bietet sich auch für diesen Krieg an, ihn in mehreren Stufen seiner möglichen Eskalation zu betrachten – bis hin zur eschatologischen (sprich: endzeitlichen).

Erste Stufe: Israel–Palästina

In Reaktion auf Angriffe seitens der palästinensischen Hamas führt jetzt das israelische Militär Angriffe auf den Gazastreifen durch, nachdem dessen Wasser-, Erdgas- und Stromversorgung abgeschaltet wurde. Und nun bereitet es eine militärische Bodenoperation vor – mit dem Ziel, nicht bloß die Infrastruktur und die militärische Streitmacht der Hamas auszuschalten, sondern gleich die ganze Organisation als solche. Doch das ist unmöglich: Hamas ist längst schon nicht bloß die Regierung, sondern auch die grundlegende Organisationsstruktur aller Palästinenser in Gaza. Auf dieser kleinen Fläche leben an die drei Millionen Palästinenser – und um die Hamas zu vernichten, muss Israel Gaza entweder dem Erdboden gleichmachen oder eine Flucht aller Palästinenser ins benachbarte Ägypten erwirken.

Beides ist physisch unmöglich.

Denn obwohl Gaza jahrzehntelang wie ein einziges riesiges Konzentrationslager existierte, werden Palästinenser es nicht einmal unter Teppichbombardements verlassen. Und sie gewaltsam zu vertreiben oder Gaza unter die eigene militärische Kontrolle zu stellen, wird Israel ebenfalls nicht gelingen:

Sollte eine Bodenoperation eingeleitet werden, wird sie den jüdischen Staat riesige Mengen an Gefallenen und Verwundeten kosten, erst recht im Häuserkampf – und totale militärische Überlegenheit ist kein Bestimmungskriterium für Erfolg mehr, was die Ereignisse am und nach dem 7. Oktober gezeigt haben.

Israels Ministerpräsident Netanjahu mag daher gegenüber der Hamas noch so grausige Drohungen aussprechen – doch die Chancen, dass sich Israel für eine vollwertige, großangelegte und dabei nicht bloß kurzzeitige militärische Invasion in Gaza entscheidet, muten nicht sehr vielversprechend an. Und das nicht bloß, weil Israel in Wirklichkeit jeder Möglichkeit entbehrt, die Hamas physisch auszuradieren – sondern auch, weil eine dafür gedachte militärische Operation den Konflikt eskalieren wird. Diese wird nicht bloß in Form eines Angriffs der libanesischen Hisbollah auf Israel vom Norden aus eintreten, sondern allgemeiner: Der Konflikt wird von einem palästinensisch-israelischen zu einem israelisch-arabischen. Also zu dem, was er von Anbeginn war.

Damit kommen wir auf der zweiten Stufe an. Israel kann natürlich versuchen, die Palästinenser in die Steinzeit zurückzubomben. Doch die wohl vielen Tausenden und später auch Zehntausenden Opfer unter Gazas Zivilbevölkerung werden die arabische Straße im Nahen Osten vor Entrüstung explodieren lassen – und die Regierungen der Region zwingen, ihre Politik nicht nur gegenüber Israel zu ändern, sondern auch die Forderung an die USA zu stellen, die israelische Kriegsmaschinerie aufzuhalten. Alle Früchte der Bemühungen der letzten Jahre, bilaterale Beziehungen zwischen Israel und einzelnen arabischen Staaten aufzubauen, werden vernichtet.

Solch ein Versuch, Gaza zu vernichten, wird nicht bloß Zusammenstöße in Jerusalem und im Westjordanland lostreten, sondern auch die dritte Eskalationsstufe des Konflikts: Israel–Islam. Anderthalb Milliarden Menschen der Ummah werden wie ein Mann Schutz für die Palästinenser und al-Quds, das für alle Rechtgläubigen heilige Jerusalem, fordern. Bei der Eskalation des Konflikts auf diese, dritte Stufe wächst auch das Risiko, dass Iran sich in ihn hineinziehen lässt. Immerhin ist Iran nicht bloß eine Regionalmacht, sondern beansprucht für sich die Rolle des Hauptbeschützers des Islams weltweit.

Allen Mutmaßungen und Spekulationen zum Trotz wurde der aktuelle Angriff der Hamas nicht von Teheran aus provoziert. Ein Aufstand in einem Konzentrationslager – das ist es vielmehr, womit wir es hier zu tun haben. Also ein Aufstand derer, die nichts zu verlieren haben und die der ständigen Erniedrigung ebenso überdrüssig sind wie der eigenen Abhängigkeit von einem um Größenordnungen mächtigeren Feind und der allgemeinen Hoffnungslosigkeit.

Derweil braucht Iran Krieg mit Israel ebensowenig wie Israel einen Krieg gegen Iran. Die Befürwortung eines Kriegs mit Iran in der israelischen Führung – geschenkt: Sie wollen es mit fremden Händen erledigt wissen, also mit den Händen der USA, wozu Washington sich allerdings ganz sicher nicht durchringen können wird.

Doch die Gefahren des israelisch-palästinensischen Problems liegen eben darin, dass es erstens sehr vielschichtig ist und dabei zweitens einem alten, unbehandelten Gebrechen gleicht – und daher das Risiko einer unkontrollierten Entgleisung weiterer Geschehnisse birgt. Denn schon die beschriebenen drei Eskalationsstufen können zu einem großangelegten Breitfrontenkrieg von hoher Intensität zwischen mehreren Ländern der Region führen, auch zum Nuklearwaffeneinsatz (durch Israel, denn die anderen Staaten dort haben nach heutigem Wissensstand keine Nuklearwaffen). Und dabei erschöpft sich dieses Problem in den drei besagten Stufen nicht einmal.

Eskalieren kann der Konflikt nämlich auch auf eine vierte Stufe – die eines Konflikts zwischen Ost und West, oder auch zwischen dem Westen und dem Globalen Süden.

Israel ist nicht nur eine Kreatur des Westens, sondern ein integraler Bestandteil zumindest seiner angelsächsischen Speerspitze. Israel ist kein normaler Staat, sondern ein in den Nahen Osten ausgelagerter 51. US-Bundesstaat – und zugleich ein privilegierter Bundesstaat. Jeder versteht, dass ein Krieg gegen Israel einem Krieg gegen die USA gleicht. Doch Washingtons globale Dominanz wankt bereits, und diese für die US-Eliten negative Tendenz hält an. Israels regionale Dominanz wankt im Gleichschritt – mittlerweile können weder die Atombombe noch die technologische Überlegenheit noch gekonnte Propagandaarbeit auch nur mittelfristig seine Sicherheit, ja, seine Existenz gewährleisten.

Denn das heutige Israel, wie es scham- und straflos (ja, lieber Wertewesten, wo bleiben denn deine Sanktionen?) alle Menschen- und Grundrechte der Palästinenser mit seinen Kampfstiefeln tritt, auf ihrem Land seinen Staat baut und ihnen wiederum den Bau ihres eigenen Staates verweigert – das heutige Israel konnte nur in der Epoche der US-Dominanz existieren und davor, als sich noch die Sowjetunion und die USA gegenüberstanden. Diese Epoche aber konnte nicht ewig dauern – doch hätte man sie wenigstens zur Lösung des Palästina-Problems nutzen können. Und eine Lösung dafür zu finden, war durchaus auch im Interesse Israels: Denn damit hätte es dem Punkt zuvorkommen können, an dem es allein den Arabern gegenübersteht, von denen es umgeben ist – und an dem sein Verderben besiegelt ist. Doch Tel-Aviv wollte die einkehrende Realität nicht anerkennen, seinen Aussichten nicht ehrlich ins Auge blicken – und so ließ es weder die Schaffung eines Staates der Palästinenser zu, noch willigte es in seine Umwandlung in einen Zweivölkerstaat mit Palästinensern als gleichberechtigten Bürgern ein. Israel hat mit seinem Festhalten am Konzept eines mononationalen Staates und seiner Gier nach Land sich selbst zur Niederlage in schon kurzfristiger historischer Frist verurteilt – doch es nennt seine Gegner selbst weiterhin "Terroristen" und "Tiere in Menschengestalt", weigert sich also, seine Verantwortung für Jahrzehnte der Erniedrigung des palästinensischen Volkes anzuerkennen.

Jene Erniedrigung erinnert indes auch an die fünfte, schwerste Eskalationsstufe, ja, die Dimension des Konflikts Israel–Palästina ist die eschatologische. Der Kampf um Jerusalem war die Quintessenz der Weltgeschichte während eines großen Teils unserer Ära – und die Heilige Stadt steht auch heute im Zentrum des globalen Zwists. Doch da ist noch mehr. Ein Wechsel im weltweiten Maßstab, ein Wechsel der ganzen Weltordnung hat begonnen. Die westliche Dominanz, die ein halbes Jahrtausend währte, geht nun zu Ende – es beginnen neue Zeiten und es formen sich neue Regeln. Und so darf die Palästinafrage auf keinen Fall in ihrem gewohnten, ungelösten Zustand verharren. Palästina kann auch gar nicht länger in der Luft hängen bleiben: Entweder wird es dort einen Knall geben, den die ganze Welt am eigenen Leib zu spüren bekommt – oder Palästinas Problem wird gelöst, sodass das Land endlich nicht mehr das Pulverfass über den ewig glühenden Kohlen ist.

Übersetzt aus dem Russischen. Erschienen bei RIA Nowosti am 10. Oktober 2023.

Pjotr Akopow ist ein russischer Historiker und Geschichtsarchivar (Absolvent des Moskauer Staatlichen Geschichtsarchivarischen Instituts). Seit dem Jahr 1991, nach einer Geschäftsreise in die damalige Bürgerkriegszone Südossetien, schreibt er als Journalist für zahlreiche Medien: Golos, Rossijskije Westi, bis 1994 Nowaja Gaseta, ab 1998 Nesawissimaja Gaseta; seit Anfang der 2000er-Jahre als politischer Beobachter bei Nowaja Model und im entsprechenden Ressort der Iswestija. Er arbeitete als Sonderberichterstatter beim Chefredakteur des Polititscheski Journal, dessen Chefredakteur er selbst im Jahr 2007 wurde. Der ehemalige stellvertretende Chefredakteur der Wsgljad ist zudem ständiger politischer Beobachter bei RIA Nowosti. 

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