Nahost

Libanon: Spurensuche im Land der Überlebenden

Die Parlamentswahlen im Libanon sind vorbei, der schwierige Alltag hat die Menschen wieder. Am Tag nach Bekanntgabe der Namen der 128 neuen Parlamentsabgeordneten stieg der Preis für das Benzin, Brot war nicht mehr in den Regalen der Märkte zu finden, sondern auf dem Schwarzmarkt zum dreifachen Preis.
Libanon: Spurensuche im Land der Überlebenden© Katrin Leukefeld

von Karin Leukefeld, Beirut

Vor drei Jahren war ein Rabta, ein Paket des hellen Fladenbrotes, mit sieben Stück gefüllt und kostete 1.500 Libanesische Pfund (LBP). Dann stieg der Preis auf 11.000 LBP und die Menge der Brote wurde von sieben auf fünf reduziert. Nun also liegt der Preis auf dem Schwarzmarkt bei 33.000 LBP und das wird unter anderem damit begründet, dass es keinen Weizen mehr gebe, weil Russland Krieg in der Ukraine führt.

Nach Angaben des libanesischen Wirtschafts- und Handelsministeriums erhielt das Land bisher sein Getreide aus der Ukraine (60 Prozent), aus Russland (30 Prozent) und aus Rumänien (10 Prozent). Da die Lieferungen derzeit stagnieren, verhandelt das Land aktuell mit Indien und den USA über Getreidelieferungen.

Gründe für die Nahrungsmittelknappheit

Nahrungsmittelknappheit gab es im Libanon lange vor dem Ukraine-Krieg. Schon im Jahr 2019 beschleunigte die Wirtschafts- und Finanzkrise die Talfahrt des Landes. Korruption und Misswirtschaft führten zur Zahlungsunfähigkeit der libanesischen Zentralbank. Die Libanesen hatten keinen Zugriff mehr auf ihr Geld, das sie den libanesischen Banken anvertraut hatten. Das libanesische Pfund, das mit 1.500 an den US-Dollar fixiert war, verlor an Wert und wird heute außerhalb der Banken mit 31.500 LBP gehandelt.

Familien reduzieren die Mahlzeiten, Fleisch kommt kaum noch auf den Tisch. Seit Jahren verteuern sich die Preise für Nahrungsmittel, was wesentlich auf den weltweiten Anstieg der Preise für Öl und Gas zurückzuführen ist. Mangel verschärft die Spekulationen im internationalen Getreidehandel. Libanon ist zudem belastet durch einseitige, völkerrechtlich nicht legitimierte EU- und US-Sanktionen gegen Syrien, dem direkten und engen Nahrungsmittellieferanten des Libanon.

Die Subventionierung von Grundnahrungsmitteln, Gas, Benzin und Medikamenten wurde Ende 2021 teilweise eingestellt. Nur sehr arme Familien erhalten von der Regierung noch Unterstützung beim Einkauf. Neben den syrischen Flüchtlingen sind auch Libanesen zunehmend auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen. Das UN-Welternährungsprogramm WFP unterstützte im April 2022 nach eigenen Angaben 1.663.807 Hilfsbedürftige mit Bargeld und Hilfspaketen. 585.005 dieser Personen waren Libanesen. Das Land hat rund 5 Millionen Einwohner. Mehr als 1 Million Flüchtlinge aus Syrien und anderen Ländern wurden aufgenommen. Auch die etwa 500.000 Palästinenser gelten als Flüchtlinge.

Vom Kornfeld zum Schlachtfeld

Im Gespräch mit der Autorin in Beirut am 19. Mai verwies der Ökonom Abed Al-Halim Fadlallah darauf, dass die wirtschaftlichen Probleme des Landes strukturell seien. Nach dem Bürgerkrieg ist keine produktive Industrie- und Agrarwirtschaft entwickelt worden, sondern man habe Schulden und Anleihen für den Wiederaufbau aufgenommen, das Land lebte von Überweisungen.

Die wirtschaftlichen Probleme seien den Ländern des Südens gemein, die unter der globalisierten Weltwirtschaft litten. Die großen Staaten konkurrierten um die Ressourcen weltweit, die dann nicht für die tatsächlichen Bedürfnisse der Menschen, sondern für die Interessen der konkurrierenden Staaten eingesetzt würden. "Die Frage ist doch, wofür werden die Ressourcen eingesetzt", so Fadlallah, der Ökonomie an der Libanesischen Universität Beirut lehrt. "Werden die Ressourcen für die Grundbedürfnisse der Menschen eingesetzt? Oder um Waffen zu produzieren?" Libanon und der Mittlere Osten seien ein Beispiel dafür, "wie Kriege und Konflikte mit westlichem Kapital (…) unsere Länder in Märkte für Waffen verwandelt haben."

Nicht leben, überleben

Doch die Libanesen sind Überlebenskünstler. Das wenige Geld, das sie noch haben, wird gezählt und nur noch für das Notwendigste ausgegeben: Miete, Strom vom Generator, Wasser, Gas zum Kochen, Benzin, Mobiltelefon/Internet und Lebensmittel. Familien rücken zusammen, um Geld zu sparen. Man lebt nicht mehr, man überlebe, sagt ein Angestellter. Das aber aus Überzeugung.

Auf der Fahrt nach Burj Hammoud, einem armenischen Viertel im Osten von Beirut, führt der Weg am Hafen vorbei. "Hier lagen überall Leichen", erinnert sich Mohamed B. (Name ist der Autorin bekannt) an den frühen Abend des 4. August 2020, als vor ihm über dem Hafen plötzlich ein roter Feuerball in den Himmel stieg. "Ich dachte, die Israelis hätten den Hafen bombardiert", sagt er. Es wäre nicht das erste Mal gewesen. B. war auf der Schnellstraße Charles Helou in Richtung Osten unterwegs, als etwa einen Kilometer vor ihm etwas im Hafen explodierte, der Verkehr stockte. Vorsichtig fuhr er weiter Richtung Burj Hammoud und sah ein Bild der Verwüstung: "Autos waren von der Straße geschleudert worden, Leichen lagen verstreut herum, in manchen Autos saßen die Toten nach vorne über das Lenkrad gebeugt." Es sei Blut auf der Straße gewesen, seltsam verformte Fahrzeuge schienen an den unmöglichsten Orten zu hängen oder zu kleben, die Luft sei staubig und rot gewesen. Als B. wenig später bei seiner Schwester eintraf, machte eine Warnung über die sozialen Netzwerke die Runde: "Alle im Libanon müssen in den Häusern bleiben … Ein Blick auf die Flammen deutet darauf hin, dass die Explosion auf Salpetersäure basiert. Bitte bleibt alle drinnen."

Keine zwei Jahre ist das her und jedes Mal, wenn er den Charles Helou entlangfahre, erinnere er sich an die vielen Leichen, sagt B. "Hier und hier", gestikuliert er und nimmt eine Hand nach der anderen vom Lenker, um nach rechts und links zu zeigen. "Alles hier war zerstört. Diese Tankstelle und hier das Eckhaus, und jetzt stehen viele Gebäude wieder. In weniger als zwei Jahren ist so vieles wiederaufgebaut worden." Er bewundere den Überlebenswillen seines Volkes. Die Libanesen hätten etwas Besonderes in sich, das es ihnen ermögliche, nach schwersten Schlägen wieder aufzustehen und weiterzumachen. "Sie warten nicht darauf, dass der Staat ihnen hilft, sie fangen einfach wieder an."

Die Armenische Straße

"Überlebens-Gen" nennt der Spirituosenhändler Joseph D. dieses "Besondere". Seinen Laden auf der Armenischen Straße habe er mit Mary, seiner Frau, aufgebaut, sagt Joseph "Call-me-Joe" und legt den Arm um seine Frau. "Manchmal haben wir hier übernachtet, hier haben wir unser Essen zubereitet", erzählt er. "15 Jahre haben wir daran gearbeitet und in fünf Sekunden war alles zerstört. Können Sie sich das vorstellen? In fünf Sekunden!" Die Druckwelle der Explosion am 4. August habe die große, gläserne Eingangstür zerstört und sie in den Laden zurückgeworfen, erinnert sich Mary D. an den Tag. Die Flaschen zerbarsten, Lampen fielen von der Decke, sie selber habe viele Schnittwunden erlitten.

"80 Prozent unserer Flaschen waren zerstört", sagt "Call-me-Joe" und wiederholt ein ums andere Mal, dass ihr Laden in nur fünf Sekunden in Trümmern lag. Nichtregierungsorganisationen hätten später bei der Reparatur geholfen. Geld hätten sie nicht gegeben, sie hätten Handwerker und das Material bezahlt, um zu reparieren, was kaputt war. "Die Glastür im Eingangsbereich, die Regale, die Decke, den Boden." Um neue Waren zu bringen, habe er von Freunden und Familienangehörigen Geld geborgt. Nebenbei arbeite er als Elektroingenieur, um irgendwie überleben zu können. "Sie sehen, unsere Regale sind wieder gut gefüllt. Wir hoffen auf den Sommer und auf ausländische Gäste, weil Libanesen kein Geld haben, um es für Alkohol auszugeben."

Als der Bürgerkrieg im Jahr 1975 begann, sei er "ein Junge von 12 Jahren" gewesen. "Ich kannte nichts, hatte nie ein anderes Land gesehen. Wenn wir uns vergnügten, gingen wir ins Kino oder schwimmen. Dann gab es für mich 15 Jahre lang nichts als Krieg." Als der Krieg 1990 vorbei war, sei er 27 Jahre alt gewesen. Er habe geheiratet und versucht für sich und seine Familie ein Leben aufzubauen. Die Tochter sei zum Studium nach Frankreich gegangen, sie seien ganz gut über die Runden gekommen. Aber dann habe im Jahr 2019 der Wirtschaftskrieg begonnen und er habe alle Ersparnisse verloren. "Die Banken, die Regierung, sie haben unser ganzes Geld gestohlen. Wissen Sie, wie das ist, wenn das Kind im Ausland ist und die Eltern es nicht mehr unterstützen können!"

Lieber Angeln als Wählen (gehen)

Während des Gesprächs fährt ein alter, verbeulter VW-Bus vorbei und verbreitet über Lautsprecher Parolen zu den bevorstehenden Parlamentswahlen. "Die Wahlen interessieren mich nicht", sagt Joseph "Call-me-Joe". Er werde nicht wählen gehen, sondern zum Angeln. "Wenn ich 200.000 Lira bezahlen muss, um Benzin zu kaufen, um in mein Dorf zu fahren und zu wählen, bezahle ich lieber 200.000 Lira und fahre zum Angeln. Dann kann ich wenigstens Fisch mit nach Hause bringen. Wenn ich zur Wahl gehe, gibt es nichts."

"20 Liter Benzin kosten inzwischen 500.000 Lira", fährt er fort. Ein Monatslohn betrage ungefähr 1.200.000, 1.300.000 Lira. Davon könne man noch nicht einmal 60 Liter Benzin kaufen. Auf die Frage, wie er mit seiner Familie überleben könne, antwortet der Spirituosenhändler: "Wir im Libanon sind Überlebenskünstler. Ich weiß wirklich nicht, wie wir überleben, vielleicht hilft uns Gott? Mit Sicherheit hilft uns Gott! Aber alle Libanesen haben ein besonderes Gen, das Überlebens-Gen", sagt er und schmunzelt. "Wir Libanesen haben immer einen Plan B. Wenn wir am Morgen aufstehen und das Haus verlassen, haben wir einen Plan B. Wir wissen nie, was der Tag für uns bringt. Wir hatten den Bürgerkrieg und haben alles verloren. Unser Haus wurde so oft zerstört und immer haben wir es wiederaufgebaut. Was sollen wir tun? Sie können froh sein, Sie sind in Deutschland geboren. Aber wir sind nun einmal hier im Libanon geboren, das ist unser Leben."

Wenn die Menschen sich helfen

Wenige Schritte weiter ist der Wahlkampfbus zum Stehen gekommen. Der Fahrer ist ausgestiegen und telefoniert, der Lautsprecher verbreitet Parolen, Passanten gehen vorbei. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite stehen einige Leute, und blicken herüber. Ein Arbeiter trägt Werkzeug und Holz in ein Haus. "Suchen Sie etwas", fragt eine ältere Dame und blickt neugierig auf die Ausländerin, die ihr entgegenkommt. "Kann ich Ihnen helfen?" Sie heiße Hashmig K., sei Armenierin, ihr Haus sei gleich um die Ecke. "Kommen Sie, ich zeige es ihnen. Es wurde bei der Explosion im Hafen stark beschädigt, aber alles wurde von einer ausländischen NGO, von der Maronitischen Kirche in Belgien und Luxemburg wieder repariert." Zügig geht die alte Dame voran und erzählt, wie schrecklich die Zerstörung gewesen sei und wie die Menschen sich in all dem Chaos doch gegenseitig geholfen hätten.

Ihre Nichte Tanja (38), die oben im Haus wohnt, sei schwer verletzt worden. "Sie sah furchtbar aus, wie in einem Horrorfilm", erinnert sich die alte Dame. Ein Unbekannter sei mit einem Pick-Up gekommen, einige junge Männer hätten sie nach unten getragen und ins Krankenhaus gefahren. "Ich bin mitgefahren, ohne Tasche, ohne Ausweis, ohne Telefon. An nichts habe ich gedacht als daran, dass ich meine Nichte retten muss." Sie habe gebetet, dass sie überleben werde. "Einen Monat war sie im Krankenhaus und sie hat überlebt. Vielleicht weil sie ein guter Mensch ist", sagt sie nachdenklich. "Aber alle, die gestorben sind, waren keine schlechten Menschen."

Dann steht Hashmig vor dem Haus, das ihr Vater vor 100 Jahren gebaut hat. Im Nachbarhaus seien 7 Menschen getötet worden durch die Explosion. Das hätten die Libanesen nicht verdient, diese Zerstörung, empört sie sich. Wer immer das getan habe, das hätten die Menschen nicht verdient. Angesprochen auf die Wahlen sagt sie: "Ja, ich werde wählen. Es ist eine Verpflichtung. Nach allem was geschehen ist, müssen wir wählen." Sie wisse, dass viele Leute enttäuscht seien und nicht zur Wahl gehen wollten, aber sie sei anderer Meinung: "Wir müssen wählen, wir müssen es wieder und wieder versuchen." Ihre Nichte Tanja kommt langsam die Straße entlanggelaufen. Sie komme von der Physiotherapie und es gehe ihr schon viel besser. Sie zeigt ihre Narben am Kopf, am Arm, am Bein, die sie ihr Leben lang an die Explosion im Hafen von Beirut erinnern werden. Ihrer Tante habe sie ihr Leben zu verdanken, sagt sie lächelnd und nimmt die alte Dame in den Arm. "Wir geben nicht auf, wir sind Armenier", sagt Hashmig K. 77 Jahre sei sie alt, sagt sie und lacht: "In drei Jahren bin ich 80!"

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