Präsident des Landkreistages macht Heuchelei zur Ukraine sichtbar
Von Dagmar Henn
Da äußert sich der Präsident des Deutschen Landkreistages zur Migrationspolitik, und schon wird daraus eine schräge Schlagzeile gemacht, die man danach skandalisieren kann. Nun schön, Skandale sind die Butter auf dem journalistischen Brot, aber die Hintergründe, warum die Aussagen von Landkreistagspräsident Reinhard Sager wie verdreht wurden, sind schon interessant.
Vorab: Das, was verdreht wurde (und zwar so sehr, dass sich der Landkreistag genötigt sah, den vollen Text des Original-Interviews zu veröffentlichen), war die Aussage, "die Landkreise wollen keine Flüchtlinge aus der Ukraine mehr aufnehmen". Was Sager so tatsächlich nicht gesagt hat. Aber er hat sehr wohl darauf hingewiesen, dass "allein Baden-Württemberg doppelt so viele ukrainische Geflüchtete wie ganz Frankreich" beherberge, die Belastung also mitnichten gerecht verteilt sei. Und er fordert, die Privilegien, die Ukrainer gegenüber anderen Flüchtlingen haben, zu beenden; also nicht länger sofort Bürgergeld zu zahlen, noch dazu ohne jede Vermögensprüfung, sondern sie so zu behandeln, wie alle anderen Flüchtlinge auch.
Eine Forderung übrigens, gegen die es wenige Argumente geben kann. Denn dafür müsste man eine Eigenschaft anführen können, die sie grundsätzlich von allen anderen unterscheidet. Wobei allerdings noch hinzukommt, was Sager nicht anführt, dass andererseits, was die Aufnahme einer Arbeit betrifft, die Ukrainer wieder wie Flüchtlinge und nicht wie Bezieher von Bürgergeld behandelt werden, also nicht verpflichtet sind, eine angebotene Arbeit anzunehmen.
Die Privilegien der Ukrainer gehen übrigens noch ein Stückchen weiter – sie werden nur verpflichtet, in einem bestimmten Bundesland zu bleiben, und mancherorts, wie in Niedersachsen, können Vermieter von Sozialwohnungen sogar außerhalb der offiziellen Vergabemechanismen an Ukrainer vermieten, wenn diese schon einen Aufenthalt nach § 24 Aufenthaltsgesetz haben.
Sager ist Pragmatiker. Seine Probleme sind konkret. Wenn er sagt "etliche Landkreise und Gemeinden sind mit der regulären und irregulären Migration überfordert", dann beruht das auf handfesten Informationen.
Grundsätzlich ist das ganze System der Flüchtlingsversorgung kompliziert. Was daran liegt, dass die gesamte konkrete Organisation von Anfang an bei den Kommunen liegt, sobald sie durch das Verteilsystem dort abgeladen werden. Für die Unterbringung, Verpflegung, aber auch die gesamte Betreuung, einschließlich Integrationsmaßnahmen, sind die Kommunen zuständig. Seit Anfang des Jahres gibt es wieder Bundesmittel pro Kopf, mittlerweile in Höhe von 7.500 Euro jährlich, die aber nicht direkt an die Kommunen fließen, sondern über die Bundesländer.
Da diese 7.500 Euro erkennbar nicht alles abdecken, müssen die Länder in der Regel zuschießen. Allerdings kann das je nach Abrechnungsverfahren dauern, sprich, die Kommunen müssen selbst die Leistungen, die sie später erstattet bekommen, erst einmal vorschießen. Weshalb der Deutsche Städtetag wie der Deutsche Landkreistag in diesem Zusammenhang sehr ähnliche Forderungen erheben.
Sager, der Landkreistagspräsident, ist sich durchaus einig mit dem Geschäftsführer des Städtetags, Helmut Dedy, was die Verlagerung der Asylverfahren an die Außengrenzen betrifft. Dedy erklärte jüngst: "Dass jetzt ein Solidaritätsmechanismus kommen soll, der die Aufnahme von Geflüchteten fair auf die Schultern aller EU-Länder verteilt, ist der richtige Ansatz. Das fordern die Städte in Deutschland seit langem. Denn Geflüchtete angemessen unterzubringen und zu versorgen, fordert uns immer stärker." Wie Sager ist Dedy selbst bezogen auf die Effekte der neuen Regelung skeptisch: "Deutliche Effekte wird es aber von heute auf morgen nicht geben." Sager dazu: "Allerdings dauert die Umsetzung der Beschlüsse noch viele Monate, wenn nicht Jahre." Und bis dahin bleibe das Problem der illegalen Einwanderung erhalten:
"Wenn die Bundespolizei irreguläre Migranten auf deutschem Boden aufgreift, werden sie nicht zurückgebracht, sondern bleiben im Land. Teils für immer, weil Abschiebungen auch nach der Asylreform von Bund und Ländern kaum zunehmen werden. Die Ankündigung von Kanzler Olaf Scholz vom Herbst, der Staat werde 'endlich in großem Stil abschieben', war nichts anderes als eine Beruhigungspille mit bitterem Nachgeschmack, weil sie nicht wirkt."
Was die Zahlen vorerst bestätigen: Von insgesamt etwas über 48.000 Ausreisepflichtigen, die keine Duldung hatten (Gesamtzahl derer mit Duldungen: 193.972), wurden 16.430 im vergangenen Jahr tatsächlich abgeschoben, in 31.770 Fällen scheiterte der Abschiebungsversuch. Was bedeuten würde, allein um die aktuell im Jahr 2023 Abzuschiebenden tatsächlich abzuschieben, bräuchte es drei Jahre. Bis dahin sind aber längst viele neue Fälle aufgelaufen. Und diese 16.430 sind schon "27 Prozent mehr als 2022", wie die Zeit meldete.
Sorge hat die wirkliche Lage vor der Nase, anders als die Berliner Blase, die sich problemlos in ihren Fantasien ergehen kann, jedermann jederzeit aufzunehmen. "Was mich persönlich mit ganz großer Sorge umtreibt: Längst nicht alle Flüchtlinge, die vor acht, neun Jahren gekommen sind, sind integriert oder in Arbeit." Schlimmer noch, es gibt Menschen, die seit neun Jahren in Notunterkünften hausen. Und was die Propagandakampagne der "Willkommenskultur" 2015 abwarf, lässt sich nun einmal nicht beliebig wiederholen:
"Für Unterbringung, Betreuung und Sprachkurse fehlen den Kommunen Wohnungen, Personal, Ehrenamtliche und Geld. Kanzler Olaf Scholz hat die Finanzierung zusammengekürzt, allein für die zurückliegenden zwei Jahre fehlen den Landkreisen und Städten fünf Milliarden Euro bei den Unterkunftskosten. Für die Landkreise ist deswegen völlig klar: Wenn die Zahl der Flüchtlinge nicht schnell deutlich und dauerhaft zurückgeht, werden die Probleme immer größer, und das wird sich rächen."
Ja, Sager wirft die Frage auf, ob es nicht andere Lösungen für die Ukrainer gäbe:
"Bundesinnenministerin Nancy Faeser hat einst über wetterfeste Unterkünfte im sicheren Westen der Ukraine gesprochen. Vielleicht wäre auch Polen bereit, mehr ukrainische Geflüchtete aufzunehmen, wenn es Unterstützung von der EU gibt."
Und er hat eine eindeutige Vorstellung, wie an der deutschen Grenze verfahren werden sollte:
"Wir Landkreise fordern deswegen einen konsequenten Schutz der deutschen Grenzen, solange die EU-Außengrenzen so löchrig sind. Es braucht mehr und verstetigte Kontrollen, um irreguläre Migranten ohne Asylschutz-Perspektive an der Einreise zu hindern."
Der entscheidende Punkt ist allerdings, dass Sager da eben keine Position als Privatmann von sich gibt, sondern als Präsident des Landkreistages, seine Aussagen also im Grunde die Aussagen der Mehrheit der Landkreise sind. Dahinter steckt nicht eine unterstellte Fremdenfeindlichkeit, sondern Ratlosigkeit angesichts permanenter Überforderung. Die Entscheidungen werden schließlich in Berlin getroffen, wo man gerne mal den Moralischen gibt, aber die konkrete Belastung, von der Suche nach Unterkünften bis zur Beauftragung eines Wachdienstes, von Sprachkursen bis hin zu den Versuchen, bei Konflikten zu vermitteln, liegt bei den Kommunen.
Im März hatte Sager übrigens schon ein anderes Interview gegeben, in dem es vor allem um Arbeitsrechte und -pflichten für Flüchtlinge ging. Und interessant daran ist, dass er zum Beispiel einen Einsatz in Arbeitsgelegenheiten nur in sehr engen Grenzen akzeptiert, und vielmehr reguläre Arbeitsverhältnisse will, aber auch sagt, dass eben Arbeit auch Voraussetzung für Integration ist (und nebenbei zu verstehen gibt, dass es für die Plätze in Sprachkursen oft Wartezeiten gibt). Er sieht die Probleme von der praktischen Seite, ähnlich wie beispielsweise oft auch Boris Palmer. Aber genau das ist der politische Ansatz, der am schärfsten angefeindet wird.
Um auf den Anfang zurückzukommen: Wenn jetzt die Aussagen Sagers unter einer falschen Überschrift vermarktet werden, bedient das ein einfaches Bedürfnis: Es lenkt ab von seiner Forderung, die Privilegien der Ukrainer zu beenden. Das ist allerdings von allen Problemen, die Sager benennt, dasjenige, das am einfachsten zu lösen wäre, denn das ist nicht nur eine willkürliche Entscheidung, dahinter steckt sogar ein gewaltiges rechtliches Risiko – sollte irgendein anderer Kriegsflüchtling eine Klage auf eine gleiche Behandlung einreichen, müsste er mit dieser Klage Erfolg haben, selbst wenn das bis zur europäischen Ebene dauern könnte. Es ist auch nicht nachzuvollziehen, warum und wie Ukrainer höhere Ansprüche haben sollen als Menschen anderer Herkunft in der gleichen Situation, und letztlich sogar als Deutsche, die auf Bürgergeld angewiesen sind. Das anzusprechen ist nur vernünftig.
Aber es tut weh, weil es sichtbar macht, wie sehr die ganze "Solidarität mit der Ukraine" darauf angewiesen ist, eine Sorte von Bessermenschen zu konstruieren, die mehr Aufmerksamkeit, mehr Unterstützung verdient haben als die gewöhnliche Ausgabe des Homo sapiens, seien es jetzt einheimische Wohnungslose oder Flüchtlinge aus Ländern, die nicht gerade eine Stellvertreterarmee des Westens stellen. Schon alleine, weil eine Reaktivierung all der alten Überreste antisowjetischer Propaganda, die geschieht, um Feindseligkeit gegenüber Russland zu schaffen, sonst eben immer auch die Bürger der einstigen ukrainischen Sowjetrepublik mitmeinen würde.
Wobei die Wirklichkeit noch eine Runde perverser ist, weil diese Sonderstellung der Grund ist, sie im fremden Interesse zu Hunderttausenden auf die Schlachtbank zu schicken; ein klein wenig wie eine verzerrte, aber massenhafte Neuauflage des alten europäischen Mythos vom heiligen König, der ein Jahr lang bevorzugt, aber am Ende geopfert werden muss, wobei weder die Ukrainer noch die Deutschen in der Breite begreifen, welch abgründiges Spiel mit ihnen getrieben wird.
Hinter dieser eigenartigen Bevorzugung jedenfalls verbirgt sich unerbittlich die Frage "Warum?", und hinter dieser Frage lauern unzählige weitere Gedanken, die zu den Widersprüchlichkeiten und Absurditäten des ganzen Umgangs mit der Ukraine führen, weshalb es am besten ist, wenn an dieses Thema gar nicht gerührt wird. Da aber ein "Schau da nicht hin" in der Regel das Gegenteil bewirkt, wird in diesem Fall im Interesse der Ablenkung eine vernünftige und tatsächlich für jedermann nachvollziehbare Forderung so weit überdreht, bis sich der eine Teil des Publikums sofort empört der Lektüre verweigert, während der andere vom wirklichen Inhalt enttäuscht wird, und daher den Punkt mit Sprengkraft auch nicht bemerkt.
Mehr zum Thema ‒ EU-Bürger haben existenzielle Sorgen – Eliten bleiben von Ukraine besessen
RT DE bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.
Durch die Sperrung von RT zielt die EU darauf ab, eine kritische, nicht prowestliche Informationsquelle zum Schweigen zu bringen. Und dies nicht nur hinsichtlich des Ukraine-Kriegs. Der Zugang zu unserer Website wurde erschwert, mehrere Soziale Medien haben unsere Accounts blockiert. Es liegt nun an uns allen, ob in Deutschland und der EU auch weiterhin ein Journalismus jenseits der Mainstream-Narrative betrieben werden kann. Wenn Euch unsere Artikel gefallen, teilt sie gern überall, wo Ihr aktiv seid. Das ist möglich, denn die EU hat weder unsere Arbeit noch das Lesen und Teilen unserer Artikel verboten. Anmerkung: Allerdings hat Österreich mit der Änderung des "Audiovisuellen Mediendienst-Gesetzes" am 13. April diesbezüglich eine Änderung eingeführt, die möglicherweise auch Privatpersonen betrifft. Deswegen bitten wir Euch bis zur Klärung des Sachverhalts, in Österreich unsere Beiträge vorerst nicht in den Sozialen Medien zu teilen.