Verloren zwischen Rechts und Links
Von Rüdiger Rauls
Dumm gelaufen
Seit Corona ist die Welt nicht mehr, wie sie war. Eigentlich hatte das weltanschauliche Durcheinander bereits mit der Klimabewegung "Fridays for Future" (FfF) begonnen. Sie hatte die westliche Wertewelt in Unordnung gebracht und besonders eine junge Generation von Oberschülern in Aufruhr und Panik versetzt. Die altgedienten Wertemissionare des politischen Westens waren von dieser Bewegung auf dem falschen Fuß erwischt worden, auch wenn sie schnell die Orientierung wiedergewannen und sie sich zu Nutzen zu machen wussten.
Junge Sprösslinge des westlichen Denkens forderten von ihrer Elterngeneration die Einhaltung des selbst aufgestellten Wertekatalogs. Aus Angst vor dem Untergang durch den drohenden Klimakollaps verlangten sie einen verantwortungsvolleren Umgang mit Klima und Natur. Im Interesse der eigenen Zukunft sollten weniger Treibhausgase ausgestoßen werden, was weniger Industrieproduktion auf der Basis von fossilen Brennstoffen bedeuten würde, aber auch privaten Konsumverzicht.
Damit brachten sie die Altvorderen in Zugzwang. Denn westliches Denken war bislang nicht auf Verzicht ausgerichtet, sondern auf Wachstum. Mit Wohlstand und Konsum machten sich die westlichen Eliten ja das eigene Volk gewogen und hielten ihre Gesellschaften stabil. Wohlstand und Konsum ist es auch, was die meisten Menschen wollen, die gepriesenen "Freiheitswerte" dagegen waren eher Druckmittel gegen sogenannte Schurkenstaaten.
Der Aufstand der eigenen Jugend und die Erwartung des überwiegenden Teils der Bevölkerung nach einem komfortablen Leben waren politisch kaum in Einklang zu bringen. Den Vorzug gaben die westlichen Strategen schließlich der Werteorientierung, da sonst eine ideologische Abgrenzung gegenüber Staaten wie China und Russland, den größten Herausforderern der westlichen Vorherrschaft, nur schwer möglich gewesen wäre.
Lange Zeit übte die Bevölkerungsmehrheit keinen Druck zur Abkehr von der idealistischen Klimapolitik aus. Die meisten Menschen waren unschlüssig, was davon zu halten war. Diskussionen über das Thema waren eine Randerscheinung in ihrem Leben, eher ärgerlich, aber nichts, womit man sich beschäftigen musste. Schon gar nicht wollte man von neunmalklugen Oberschülern als "Rechte" oder "Nazis" beschimpft werden, wenn man anderer Meinung war.
Solche Vorwürfe kamen immer, wenn sich Klimaapostel argumentativ nicht mehr zu helfen wussten und auch die Wissenschaft ihre Sichtweise nicht stützte. Kritik an deren Ansichten und Stil kam ursprünglich von Kräften, die nicht dem "woken", sondern eher einem konservativen Milieu angehörten. Das machte es leicht, solche Andersdenkenden in die rechte Ecke zu schieben.
Eine Folge der Verunglimpfung war, dass sich sachliche Kritik immer mehr aus der öffentlichen Debatte zurückzog, die immer mehr auf der Ebene des persönlichen Empfindens und immer weniger tatsachenbasiert und sachlich geführt wurde. Andersdenkende mundtot zu machen, indem man ihre Ansichten als "rechts" bezeichnete und sie selbst als "Nazis", wurde zu einer Methode, die auch bei anderen Themen schnell Schule machte. Als rechts galt, was nicht dem Denken des woken Milieus entsprach.
Überrumpelt davon, dass sich das eigene Wertedenken nun gegen sie selbst richtete, wussten besonders die etablierten Parteien dieser ideologischen Herausforderung nichts entgegenzusetzen und zogen es vor, auf der "woken" Welle mitzureiten. In ihrer bisher betriebenen moralisierenden Diskussionskultur war ihnen sachliche Argumentationskraft längst abhandengekommen.
Dramatischer Wandel
Hatte sich die Auseinandersetzung um das Klima noch weitgehend abseits vom Alltag der meisten Menschen abgespielt und sie deswegen wenig berührt, änderte sich dies mit Corona und spätestens mit den antirussischen Sanktionen. War die Klimadebatte für die schweigende Mehrheit noch intellektuelles Geschwurbel, erlangten der Lockdown sowie die Preisexplosion für Lebensmittel und Energie existenzbedrohendes Ausmaß. In nur fünf Jahren hatte sich die Lebenswirklichkeit der meisten Menschen in Deutschland bis zur Unkenntlichkeit verändert.
Das wiederum sorgte für eine bisher kaum gekannte Verunsicherung in der Gesellschaft, verstärkt durch eine orientierungslose Regierung mit wenig Bezug zur Alltagssituation der Bevölkerung. Mit Fehleinschätzungen bezüglich des Krieges in der Ukraine, widersprüchlichen politischen Entscheidungen und mangelnder fachlicher Eignung des zuständigen Personals konnte Berlin zu keiner Zeit das Gefühl von Sicherheit und Verlässlichkeit bieten.
Die Entscheidungsträger waren Getriebene, die nicht den Interessen des Landes folgten, sondern Forderungen der USA und der Ukraine. Besonders die Regierungsparteien verloren dadurch immer mehr an Boden, während die Alternative für Deutschland (AfD) und das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) sie politisch zunehmend in die Zange nahmen.
Gerade im Aufstieg der AfD sah man in Berlin eine Bedrohung für die eigene Politik, war er doch Beleg für das eigene politische Versagen und die wachsende Distanz zur Bevölkerung. Die Politik reagierte darauf, indem sie der AfD vorwarf, die "westlichen Werte" zu "verraten", besonders in Fragen der Zuwanderung, der Vertretung deutscher Wirtschaftsinteressen und der Einstellung zu Russland und zum Ukraine-Krieg. Aus "populistisch" wurde "rechts", in der Hoffnung, damit die Hinwendung zur AfD stoppen zu können. Diese Etikettierung hatte sich seit der Klimabewegung bewährt.
Rechts war schlecht. Da bedurfte es keiner Argumente mehr, keiner Inhalte, keiner nachvollziehbaren Erklärungen und keiner überzeugenden Sichtweisen.
Alles, was rechts ist
Die Menschen merken, dass das gesellschaftliche Fundament brüchig wird. Veränderungen schreiten in der Welt und hierzulande voran und treffen auf eine immer weiter um sich greifende Ratlosigkeit. Kopflosigkeit löst aber die gesellschaftlichen Probleme nicht, sie verschärft sie.
Viele geben der Regierung und ihren Parteien die Schuld an dieser Entwicklung, sind sie es doch, die politische Entscheidungen treffen, deren Auswirkungen die Bevölkerung zu spüren bekommt.
Anhänger der Regierungsparteien dagegen sehen die AfD und die "Rechten" allgemein als die Ursache des Zerfalls, auch wenn sie immer weniger darlegen können, was genau "rechts" ist. Noch schwerer fällt es ihnen, den Unterschied zu ihrem eigenen Denken deutlich zu machen.
Der Verfall der Diskussionskultur und des politischen Bewusstseins ist mittlerweile so weit fortgeschritten, dass man, ohne die Inhalte einer Aussage zu kennen, schon weiß, dass sie "rechts" sind. Man urteilt nach Signalwörtern, die man mit "rechts" oder "links" in Verbindung bringen kann. Ob die Vermutung zutreffend ist, wird an der Wirklichkeit kaum noch überprüft. Das schafft nicht nur politische Verblödung, sondern führt auch zur Verödung von Einschätzungsvermögen und Realitätssinn.
Gesellschaftlichen Zusammenhalt sucht dieser Teil der Gesellschaft in der Mobilisierung gegen "Rechts", was immer das sein mag. Sie gipfelt in den modernen Veitstänzen der "demokratischen Mitte", die überall in der Republik Zulauf haben. Es pilgern selbst jene zu Zehntausenden zu den Ritualen der gesellschaftlichen Abbitte, die bisher nie eine Demonstration besucht haben.
Druck auf die "Rechten" möchte man damit machen. Insbesondere AfD-Wähler sollen erkennen, dass sie auf dem Holzweg seien, und sich bekehren lassen, damit die Gesellschaft wieder ins Lot kommt. Doch wohin sollen sie zurück? Wo ist sie geblieben, die gesellschaftliche Kuschelecke, in der man sich in einem unbestimmten Gefühl von Zusammenhalt und Geborgenheit aneinanderschmiegte?
Die meisten der Pilger für das gesellschaftliche Heil werden vermutlich nicht klar benennen können, was an einer Ansicht rechts oder links ist. Sie sind verängstigt und wollen eigentlich nur jene Sicherheit zurück, die vor einem Jahrzehnt noch so selbstverständlich schien. Das ist verständlich. Die Realität ist jedoch, dass weder Demonstrationen noch die Einteilung der Welt in "Rechts" und "Links", in "Gut" und "Böse", alte Gewissheiten zurückbringen werden.
Interessen als Kompass
Aus dem Labyrinth der gesellschaftlichen Verunsicherung bieten die Begriffe Rechts und Links keinen Ausweg, sie sind Nebelkerzen, Irrlichter, die vom Wesentlichen ablenken. Denn von wo gesehen ist Links links und Rechts rechts? Von der Mitte? Die Mitte von heute ist nicht mehr dort, wo sie sich vor einem Jahrzehnt befand. Wie weit nach links oder rechts ist die Mitte inzwischen von sich selbst abgerückt?
Das eindimensionale Koordinatensystem ist willkürlich und unzuverlässig. Ein objektives "Rechts" oder "Links" gibt es nicht. Die Richtungsangaben können sich jederzeit verschieben, was gerade die wenigen vergangenen Jahre zeigen. Nicht Mitte, Links und Rechts sind die Koordinaten, die uns den Weg erschließen, sondern unsere Interessen. Diese zu erkennen, ist eine der schwierigsten Übungen, denn dazu bedarf es eines klaren politischen Bewusstseins über die eigene Stellung in der Gesellschaft.
Als welcher Teil der Gesellschaft verstehen wir uns selbst? Betrachten wir uns als Teil der einfachen Leute oder eher als jene, die sich über diese erheben, sie vielleicht als Schlafschafe verachten? Verstehen wir uns als diejenigen, die die materiellen Werte der Gesellschaft erschaffen, oder eher als jene, die sie sich aneignen? Verstehen wir uns als jene, die eine Gesellschaft aufbauen wollen, die für alle gleiche Voraussetzungen bereithält, um das eigene Leben zu meistern? Oder sehen wir uns eher als solche, die nur auf den eigenen Vorteil bedacht sind, denen die Interessen, Wünsche und Bedürfnisse der anderen egal sind?
Mit welchem Bewusstsein gehen wir an uns selbst heran und an die Gesellschaft, in der wir leben? Aus dieser Stellung leiten sich unsere Interessen ab. Was brauchen wir für ein menschenwürdiges Leben in gesicherten Verhältnissen und eine gute Zukunft für unsere Kinder? Das gilt es zu formulieren, und da kann es uns egal sein, ob die einen es rechts oder die anderen es links nennen. Entscheidend ist, dass wir die eigenen Interessen nicht mit fremden verwechseln, damit wir auch einen Weg finden, für sie im realen Leben einzutreten.
Rüdiger Rauls ist Reprofotograf und Buchautor. Er betreibt den Blog Politische Analyse.
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