2023 geht es ums Brot, nicht um die Butter – Inflation, Energiekrise und Rezession
Von Dagmar Henn
Es ist lange her, dass in Deutschland, genauer, der Bundesrepublik, eine derart hohe Inflation gemessen worden war. Mitte der 1970er hatte es zuletzt ähnliche Zahlen gegeben. Allerdings – damals war das das Ende einer langen Phase des Ausbaus des Sozialstaats gewesen, und auf die Preissteigerungen waren sofort entsprechende Lohnforderungen der damals starken Gewerkschaften gefolgt. Die allgemein optimistische Stimmung hatte das nicht wesentlich dämpfen können, und ein tiefgreifendes Gefühl der Unsicherheit hatte das auch nicht ausgelöst, obwohl die Hyperinflation der Weimarer Zeit deutlich näher gewesen war.
Die Inflation des Jahres 2022 führt zuallererst zu einer Einschränkung des Konsums. Drei Viertel der Deutschen schränken sich inzwischen ein, berichtete die Welt unter Berufung auf eine aktuelle Umfrage. Kleidung und Elektronikprodukte sind als Erste dran; 56 Prozent wollen auf entsprechende Einkäufe verzichten. Aber auch die Pizza vom Lieferdienst, das Fitnessstudio sowie Restaurant- und Kinobesuche stehen auf der Streichliste. Damit erwischt es viele Branchen, die bereits von der Corona-Krise massiv getroffen wurden.
96 Prozent der Befragten gehen davon aus, in den kommenden Monaten mehr Geld für Lebensmittel und Energie ausgeben zu müssen. Damit haben sie jedoch nur den richtigen Riecher für weitere noch anstehende Preissteigerungen, denn zwei Drittel der Nahrungsmittelhersteller und 38 Prozent der Getränkeproduzenten beabsichtigen, ihre Preise weiter zu erhöhen. Es sind noch bei Weitem nicht alle Kostensteigerungen beim Rohmaterial bei den Preisen für die Endverbraucher aufgeschlagen, obwohl bei Lebensmitteln und Energie die Preissteigerungen weit über dem Gesamtwert der Inflation liegen, nämlich bei 20,3 bzw. 43 Prozent.
Dass die Deutschen da pessimistisch in die Zukunft blicken, hat auch mit dem Reallohnverlust zu tun, der im letzten Jahr eine Rekordhöhe erreichte. Das gewerkschaftseigene Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) hatte auf Grundlage einer Jahresinflation von 7,8 Prozent einen durchschnittlichen Reallohnverlust von 4,7 Prozent errechnet. Das macht sich durchaus im Geldbeutel bemerkbar. Die durchschnittlichen Tariferhöhungen von 2,9 Prozent im Jahr 2022 glichen die Preissteigerungen nicht ansatzweise aus.
Dabei darf man nicht vergessen, dass die Art und Weise, wie heute die Inflation ermittelt wird, sich mit jener der 1970er nicht vergleichen lässt. Zum Teil liegt das natürlich daran, dass ganz andere Waren gekauft werden; damals waren die vielen Varianten Computer in heutigen Haushalten nicht einmal vorstellbar gewesen, selbst für die Rechenleistung eines Smartphones hatte es noch eine gigantische Maschine gebraucht. In diesem Sektor werden die Produkte kontinuierlich billiger, weil sich beständig die Leistung erhöht.
Auch andere Waren werden zumindest unter anderen Voraussetzungen erworben. In den 1970ern war es noch üblich gewesen, dass Möbel fertig geliefert werden, nicht als Bausatz, den man mit mehr oder weniger Geschick selbst zusammensetzen muss. Die Banken hatten Überweisungen noch selbst erfasst. Das heißt, sowohl bei Waren als auch bei Dienstleistungen sind viele Positionen günstiger geworden, aber um den Preis selbst zu erbringender Leistungen. Würde man diese Veränderungen mit betrachten, wären die langfristigen Preissteigerungen größer.
Seit einiger Zeit wird auch in Deutschland die hedonistische Methode angewandt, um die Inflation zu berechnen. Das ist ein Trick, der nach unten korrigiert, weil die Käufer, so der Ansatz, auf Preiserhöhungen zuerst dadurch reagieren, dass sie auf billigere Varianten ausweichen. Dieses Verhalten lässt sich tatsächlich belegen und zeigt sich unter anderem im sinkenden Absatz von Bio-Lebensmitteln; aber die Verbraucher haben schon immer so reagiert. Mehr noch, früher hatten sie unter Umständen weit mehr Möglichkeiten dazu gehabt als heute, weil sich der Einzelhandel noch nicht auf einige wenige Ketten reduziert hatte.
Was die hedonistische Sicht außerdem übergeht, ist die Tatsache, dass ein nicht unbeträchtlicher Teil der Bevölkerung schon vor Beginn dieser Inflation auf dem untersten Niveau einkaufen ging. Zwei Millionen "Kunden" haben mittlerweile die Tafeln, und das sind jene, die ihren lebensnotwendigen Bedarf nicht einmal mehr durch Einkäufe bei den Discountern decken können. Wie viele Deutsche gehören zur Gruppe jener, die ohnehin schon bei den billigsten Varianten angekommen sind? Zehn Millionen? Zwanzig?
Energie und Nahrungsmittel sind genau die Posten, die bei Ärmeren weit stärker ins Gewicht fallen als bei Wohlhabenden. Das beginnt mit der Ausstattung mit älteren Elektrogeräten, geht weiter über die schlechter isolierten Wohnungen und endet damit, dass Sozialleistungen seit der Einführung von Hartz IV vor 18 Jahren so knapp bemessen sind, dass selbst die Versorgung mit Kleidung schon schwierig wird. Gäbe es eine ungeheure Preissteigerung bei großen Automobilen oder bei Vuitton-Taschen und Hermes-Tüchern, sie träfen die Wohlhabenden. So ist gerade bei jenen Gütern die Inflation am höchsten, für die die Ärmsten anteilig am meisten ausgeben. Nicht nur die Hartz-IV-Betroffenen, sondern auch all jene knapp darüber, Niedriglöhner und Armutsrentner.
Der Pessimismus, mit dem viele Deutsche in die Zukunft blicken, hat also sehr reale Grundlagen. Was man dabei aber ebenfalls nicht vergessen sollte, ist, dass die Inflation gerade in diesen beiden Bereichen, Energie und Nahrungsmittel, nur etwa zur Hälfte das Ergebnis eines global zu geringen Angebots ist. Die andere Hälfte, so die UN-Handelsorganisation UNCTAD, ist das Ergebnis von Spekulation.
"Alle größeren Ölgesellschaften, führende Banken der USA und private Energiehandelsunternehmen, geführt von Vitol, Trafigura, Mercuria und Glencore, sind am spekulativen Energiehandel beteiligt. Die Wirkung der exzessiven Spekulation ist eine überwältigende Volatilität der Ölpreise, die oft den Preis für ein Barrel Rohöl um 25 bis 30 Dollar über das hinaustreiben, was die Marktgrundlagen ergeben. Auf die gleiche Weise hat die spekulative Aktivität von Hedgefonds, Investmentbanken und Pensionsfonds die Weizenpreise hochgetrieben. (...) Im April 2022 waren sieben von zehn Käufern von Verträgen in Weizen-Futures Investmentfirmen, Investmentfonds, andere Finanzinstitutionen und kommerzielle Unternehmen, die sich nicht dadurch absichern, sondern vom Preisanstieg profitieren wollten."
Das Onlinemagazin Telepolis befasst sich mit diesen und verweist dabei auf die Entwicklung des Ölpreises im Jahr 2008; damals habe das Barrel Öl beinahe 150 US-Dollar gekostet, der Preis für Diesel habe aber nur 1,54 Euro pro Liter betragen. Heute liege das Barrel Öl unter 90 US-Dollar, aber ein Liter Diesel koste an der Tankstelle 1,80 Euro. Die Differenz fließt in die Taschen der Ölkonzerne. Mit Strom und Erdgas wird inzwischen, dank der EU, genauso spekuliert.
Das wiederum sorgt dafür, dass alle öffentlichen Subventionen, die die hochspekulierten Kosten für die Verbraucher wieder etwas senken sollen, gleich, ob sie an die Endverbraucher ausgereicht werden oder in eine "Strompreisbremse" laufen, letztlich die Gewinne der Spekulanten aus Steuermitteln sichern. Die wiederum, dank des inzwischen hohen Anteils indirekter Steuern und Lohnsteuern, ebenfalls vor allem vom unteren Teil der Bevölkerung gezahlt werden, wodurch letztlich selbst der Versuch, das (selbst geschaffene) Problem zu begrenzen, eine weitere Umverteilung von unten nach oben darstellt.
Aber weder werden die von der EU künstlich geschaffenen Spekulationsmärkte für Strom und Gas in Frage gestellt, noch beabsichtigt die Bundesregierung, wenigstens einen Teil dieser Spekulationsgewinne abzuschöpfen. Während Otto Normalverbraucher mit der Behauptung, man müsse "mit der Ukraine" solidarisch sein, rundum kaltgestellt wird, sind die eigentlichen Empfänger dieser "Solidarität" Teil der westlichen Oligarchie, die auf vielfache Art und Weise bei der Verarmung der Westeuropäer ebenso ihren Schnitt macht wie dabei, die Ukrainer zu verheizen.
Raum für ein bisschen mehr Optimismus böte ein Verhalten, wie es die Briten gerade an den Tag legen. In den letzten Tagen streikten die Grenzkontrollen an den Flughäfen, die Eisenbahner, die Postboten, die Rettungswagenfahrer, die Autobahnmeistereien und die Pflegekräfte in den Kliniken. Gleichzeitig, wohlgemerkt. Damit die Inflation ausgeglichen wird. Das ist die größte Streikwelle, seit Margaret Thatcher 1985 mit dem Bergarbeiterstreik die Gewerkschaften zerschlagen hatte. Vielleicht regt sich ja doch noch Widerstandswille in Europas unteren Klassen; dann könnte das Jahr 2023 eine überraschend positive Wendung nehmen.
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