Brzezińskis Ukraine-Vermächtnis: Ein Gespenst geht weiterhin um in Europa
von Alexander Pałucki
Mittlerweile ist allen klar, dass der 21. Februar 2022 als ein historisch signifikanter Tag ins europäische Gedächtnis eingehen wird. Der russische Präsident Wladimir Putin hat – mit einstimmiger Unterstützung der Duma – nach nun fast acht Jahren die Volksrepubliken Donezk und Lugansk als unabhängig anerkannt. Verträge über "Freundschaft und Beistand" wurden mit beiden wenige Stunden später geschlossen. Russische Friedenstruppen haben von den dortigen Volksräten einstimmige Erlaubnis erhalten, vor Ort die Ruhe zu bewahren, falls Kiew sich für eine kriegerische Option entscheiden sollte, die beiden Landesteile nach Jahren wieder unter seine Kontrolle zu bekommen.
Am 23. Februar wird in Russland jährlich der "Tag des Verteidigers des Vaterlandes" gefeiert. Mit diesem Feiertag im Hintergrund erscheint es sinnvoll, geschichtliche Ereignisse nicht lediglich in Isolation zu betrachten. So wird es zumindest etwas schwerer, sich der oft irreführenden Deutungshoheit des Westens hinzugeben.
Das Programm, das im Hintergrund läuft: die "Heartland-Theorie"
Die Rede ist von einer geopolitischen Strategie, die vor fast 120 Jahren veröffentlicht wurde und ungefähr als die "Herzland-Theorie" übersetzt werden kann. Ihr Autor, Halford John Mackinder, hat sein Traktat wenige Jahre später noch einmal wie folgt zusammengefasst:
"Wer über Osteuropa herrscht, beherrscht das Herzland;
wer das Herzland beherrscht, beherrscht die Weltinsel;
wer die Weltinsel beherrscht, beherrscht die Welt."
Ein großer Teil des heute noch umkämpften "Osteuropas" ist durchaus die gegenwärtige Ukraine. Als "Herzland" definiert Mackinder die Gebiete Asiens, die im 19. Jahrhundert vom Russischen Kaiserreich kontrolliert wurden und später, im 20. Jahrhundert, unter dem Einfluss der Sowjetunion standen. Mackinders "Weltinsel" bezeichnet die Kontinente Eurasien und Afrika. Zu guter Letzt, was der Brite damals mit der "Welt" meinte, muss hier womöglich gar nicht mehr erklärt werden.
Sowohl in den politischen Entscheidungszentren in den USA als auch im heutigen Russland ist man sich dieser Herangehensweise durchaus bewusst, auch wenn sie seitens Washingtons seltener transparent in den Massenmedien veräußert wird. In Russland muss man sich abends nur eine der politischen Diskussionen im Fernsehen anhören – auch wenn es schwerfällt aufgrund des ganzen Geschreis –, um unmissverständlich zu erfahren, welche Länder welche pragmatischen Ziele der Selbsterhaltung verfolgen, inklusive des Heimatlandes selbst.
Wie verkauft man Leuten Saures als bitter?
Die US-Amerikaner haben ein beeindruckendes Konzept gefunden für das, was tatsächlich eine sehr kluge imperialistische Strategie ist: mithilfe des Anfang des 20. Jahrhunderts als "Public Relations" erfundenen Handwerks des modernen Beeinflussens der öffentlichen Meinung. Das gelang vor allem, indem man den ganzen de facto imperialistischen Prozess des damals angelsächsischen und US-amerikanischen Establishments über alle auflagenstarke Medien stur als humanitären "Demokratie-Export" zu bezeichnen begann. Einer der Wegbereiter dieser Wirklichkeitsverzerrung war Edward Bernays, der seine Erkenntnisse samt vieler Fallbeispiele in seinem Klassiker aus dem Jahr 1928, "Propaganda", veröffentlichte. Zweifelsohne wirken diese Strategien bis heute, wurden aber noch verfeinert und angepasst an das sogenannte digitale "Informationszeitalter". Bernays hat sogar die Feministinnen seiner Zeit über pfiffige Werbeslogans überzeugt bekommen, dass das Rauchen ein Symbol der Emanzipierung vom Patriarchat sei.
Die "graue Eminenz": Zbigniew Brzeziński
Der gebürtige Pole hat ein umfangreiches Résumé, aber seine Position als Sicherheitsberater des US-Präsidenten Jimmy Carter (1977–1981) ist wohl die bekannteste. Bevor er im Jahr 2017 (mit 89 Jahren) starb, agierte er nur noch als einflussreicher Berater im Hintergrund sowie als Gründer und Leiter von Thinktanks wie "The Trilateral Commission", ohne je wieder eine offizielle, amtliche Rolle innegehabt zu haben. Zuletzt beriet er US-Präsident Barack Obama in seiner Politik gegenüber Osteuropa – besonders Polen –, aber hauptsächlich im Hinblick auf die Ukraine.
Im Jahr 1981 wurde vom britischen Historiker Norman Davies ein sehr lesenswertes Buch in zwei Bänden mit dem Titel "God's Playground. A History of Poland" (zu Deutsch: "Gottes Spielwiese. Eine Geschichte Polens") veröffentlicht, das bis heute nicht ins Deutsche übersetzt wurde.
Obwohl der Titel weiterhin passt, könnte die Annahme gemacht werden, dass er seit mindestens dem Jahr 1994 nun sogar mehr der Ukraine zuteil gemacht werden könnte – so bedeutend ist die Rolle der Ukraine auf dem europäischen Kontinent. Auch Brzeziński verstand das vollkommen.
Denn schon im Jahr 1997, als noch der für den Westen fügige und passive Boris Jelzin Russland anführte, unterstrich Brzeziński in seinem Sachbuch "Die einzige Weltmacht" (engl. Originaltitel: "The Grand Chessboard") seine These erneut klipp und klar:
"Die Ukraine, ein neuer und wichtiger Raum auf dem eurasischen Schachbrett, ist ein geopolitischer Dreh- und Angelpunkt, weil ihre bloße Existenz als unabhängiger Staat zur Umwandlung Russlands beiträgt. Ohne die Ukraine ist Russland kein eurasisches Reich mehr." (Seite 79 der deutschen Ausgabe, 2001)
Nachdem er auch über die "Umwandlung Russlands" liebkost, erläutert der einflussreiche Politologe die hypothetische Möglichkeit einer gegenteiligen Situation:
"Wenn Moskau allerdings die Herrschaft über die Ukraine mit ihren 52 Millionen Menschen, bedeutenden Bodenschätzen und dem Zugang zum Schwarzen Meer wiedergewinnen sollte, erlangte Russland automatisch die Mittel, ein mächtiges Europa und Asien umspannendes Reich zu werden. Verlöre die Ukraine ihre Unabhängigkeit, so hätte das unmittelbare Folgen für Mitteleuropa und würde Polen zu einem geopolitischen Angelpunkt an der Ostgrenze eines vereinten Europas werden lassen."
Die tatsächliche Aufnahme der Krim in die Russische Föderation im Jahr 2014 hat schon mal den Russen den Zugang zum Schwarzen Meer ermöglicht, wie der Autor hier in Theorie befürchtete.
Auch was Brzeziński mit der "Unabhängigkeit" der Ukraine eigentlich meint, ist selbstverständlich eine starke institutionelle und weltanschauliche Bindung der Ukraine an die "Pax Americana", also den von den USA definierten und geleiteten "Frieden" auf der Welt. Diese Begriffsverdrehung – wie bereits weiter oben erwähnt – gelingt dank des rhetorischen Potenzials von Bernays' popularisierten "Public Relations", ausgeführt von den übermächtigen, international sendenden US-Medienkonglomeraten.
Zumal der "amerikanische Frieden", den die meisten Historiker ab dem Ende des Zweiten Weltkrieges gelten lassen, seit jeher gefüllt war mit Angriffskriegen und dauerhaften Kriegen, die Washington regelmäßig veranstaltete und mit wechselndem Erfolg der Welt als "friedensstiftend" und "humanitär" zu verkaufen vermochte. Als nur eines von vielen Beispielen können hier die eine Million zivilen Opfer im Irakkrieg genannt werden, die die US-amerikanische Führung – seit ihrem Angriff auf das Land im Jahr 2003 – zu verantworten hat.
Würde also eine erneute ukrainisch-russische Zusammenarbeit, jenseits der "Pax Americana", doch noch aufblühen, wäre, frei nach dem obigen Titel von Davies' Buch, Polen erneut der Hauptaustragungsort der Gefechte auf "Gottes Spielwiese".
Der große NATO-Prophet
Brzeziński war ein leidenschaftlicher Befürworter der Zerschlagung Jugoslawiens. Auch hier wurde das internationale Recht auf "territoriale Unverletzlichkeit" von der westlichen Wertegemeinschaft weitestgehend und grob übersehen.
Das Konzept der "Balkanisierung" in asiatischen, an Russland grenzenden Gebieten empfand der einflussreiche Präsidenten-Berater als ähnlich effektiv und nötig.
Die NATO-Bombardierung Serbiens im Jahr 1999 und der Kosovokrieg wurden von ihm gutgeheißen, während er Russlands Rolle im tschetschenischen Krieg nicht mit "territorialer Unverletzlichkeit" Russlands assoziieren wollte und stattdessen streng verurteilte.
Grundsätzlich war Brzeziński sichtlich in guter Gesellschaft, da auch damalige politische Führer wie Václav Havel (tschechisches Staatsoberhaupt, 1993–2003), Adam Michnik (polnischer Medienmogul und Mitglied des atlantischen "Council of Foreign Relations", dem auch Brzeziński Zeit seines Lebens angehörte) und Joschka Fischer (damaliger deutscher Grünen-Außenminister, 1998–2005) die NATO-Bombardierung Serbiens enthusiastisch anfeuerten. Die drei genannten und viele andere des damaligen Wertewestens, wie zum Beispiel auch Margaret Thatcher, machten Edward Bernays und seiner Kunst, Abscheuliches im guten Licht darzustellen, alle Ehre, als das Konzept der "humanitären Intervention" via Bombardierung salonfähig und normativ (im Westen) vertretbar gemacht und sogar mit einem moralischen Mandat versehen wurde.
Eine stetige Erweiterung des Atlantischen Bündnisses nach Osten sah Brzeziński als eine Selbstverständlichkeit an, von der er sich im Laufe seiner politischen Karriere niemals abwandte und immer als einzige sinnvolle Option forcierte.
Die heutigen Früchte von Brzezińskis verzweigtem Baum
Lauter kleine "Brzezińskis" werden jährlich aus den westlichen Ausbildungsstätten entlassen, um die Geschicke der Welt nach dialektischer NATO-Schablone weiter umzuformen. Einer dieser jungen Entscheider ist der ehemalige ukrainische Verteidigungsminister Andrei Sahorodnjuk (2019–2020). Der an der University of Oxford weitergebildete Finanzstratege hat sich am Tag vor der Anerkennung der Volksrepubliken durch Russland standhaft zur Ukraine-Krise im britischen Guardian geäußert.
In seinem Artikel versichert er bereits im Titel, dass nach einem möglichen Krieg in der Ost-Ukraine "Russland wirtschaftlich verkrüppelt sein wird – und wegen Kriegsverbrechen vor Gericht gestellt werden kann".
Welches Gericht für solche Fälle zuständig wäre, teilt Sahorodnjuk nicht mit. Vielleicht handelt es sich um die internationale juristische Instanz, die es auch versäumt hat, die USA für die Kriegsverbrechen im Irak, in Jugoslawien oder in Vietnam der Gerechtigkeit zuzuführen?
Ganz zu schweigen davon, dass Sahorodnjuk die Option, dass es seine Landsmänner in Kiew sein könnten, die den Erstschlag verantworten, vollkommen ignoriert.
Sehr interessant, dass es in puncto des ehemaligen Jugoslawiens (das noch bis ins Jahr 1992, und weiter fragmentiert von 1992 bis 2003, rechtsstaatlich existierte) und des Kosovos (im Jahr 2008 vom Westen enthusiastisch als von Serbien "unabhängig" anerkannt) einen stringenten Fetisch gibt, das internationale Recht zur Selbstbestimmung der Völker zu huldigen, es aber der ethnisch und kulturell russischen Bevölkerung im Donbass gezielt abzusprechen.
Wer hier keine politische und opportunistische Ratio eines Hegemonen erkennt, hat Hausaufgaben einer ganz anderen geistlichen Größenordnung zu bewältigen.
"Ist Russland etwa dann kein opportunistischer Hegemon?" könnte eine Gegenfrage lauten. Hier ist das Stichwort des regionalen "Sicherheitsbedürfnisses" wichtig, um den Kontext ganz zu entschlüsseln. Selbst der oft naive und ewiggestrige Spiegel hat nach 31 Jahren und unter enormem Rechercheaufwand endlich kürzlich eingestanden, dass es informelle, aber protokollierte, mündliche Zugeständnisse seitens der westlichen Chef-Diplomatie gegenüber der sich im Zerfall befindenden Sowjetunion gab, keine weitere NATO-Erweiterung Richtung Osten zu veranlassen. Das wurde rasch über Bord geworfen, als wenige Jahre später, im Jahr 1999, bereits Tschechien, Polen und Ungarn der NATO beitraten. Im Jahr 2004 folgten sieben weitere mitteleuropäische Länder, was die Einflussgrenze des Bündnisses noch näher an Russland rücken ließ.
"Russland kommt gefährlich nahe an unsere kostbare NATO-Grenze"
Es bedarf kognitiver Dissonanz, enorm vieler Wissenslücken und manchmal vorsätzlicher Ignoranz, um Russland "imperialistisches" Verhalten in der Causa Ukraine zu unterstellen. Internationales Recht ist deswegen so oft im Patt, da stets zwei Prinzipien aneinandergeraten: zum einen das Selbstbestimmungsrecht eines Volkes, dem Staatsgebilde anzugehören, für das es sich plebiszitär entscheidet, zum anderen die "territoriale Unversehrtheit" bereits bestehender Staatsgebilde, worauf die neue ukrainische Führungsschicht seit dem verfassungswidrigen Staatsputsch im Jahr 2014 pocht.
Letzteres wäre in Schottland im Jahr 2014 fast hinterfragt worden, als knapp 55 Prozent für das Verweilen im britischen Reich gestimmt hat, später aber vom EU-Austritt Großbritanniens im Zeitraum von 2016 bis 2020 etwas überrascht wurde. Wenigstens kam es jedoch zu einer Volksabstimmung, die de facto die "territoriale Unversehrtheit" Großbritanniens zeitweise ins Vakuum der Ungewissheit stellte.
In Katalonien ist das Thema auch noch nicht ganz abgeschlossen, obwohl die ontologische Dringlichkeit sicherlich etwas bezweifelt werden kann: Ein großer Teil der Katalanen will zwar Unabhängigkeit von der spanischen Krone, plant aber sofort danach der Europäischen Union neu beizutreten, mit Barcelona als Hauptstadt. Große weltanschauliche, beziehungsweise geostrategische, Verschiebungen würden Katalonien dadurch eher nicht ereilen.
Diametral anders verhält es sich aber mit der Ukraine, siehe das weiter oben zusammengefasste Lebenswerk Brzezińskis.
Für den Frieden im Donbass wäre der richtige und aufrichtige Ansatz, die Menschen, die dort leben, sprechen zu lassen. Sie wurden aber seit acht Jahren medienstrategisch auf stumm geschaltet. Wenn der NATO-affine Wertewesten sich nicht bereit erklärt, den jetzigen Volksräten dort zu vertrauen, sollte er zumindest eine Wiederwahl oder ein Referendum proaktiv unterstützen und der bitteren Wahrheit ins Gesicht schauen:
Nämlich, dass die Menschen in Donezk und Lugansk von der Elite, die zurzeit von Kiew aus herrscht, nicht regiert werden wollen. Dies sind aber Prinzipien, deren extreme Verschleierung die ausgezeichnet vernetzte NATO-Propagandamaschine sicherlich jetzt nicht anfangen wird zu unterbinden. Ganz im Gegenteil.
Denn die "Weltinsel" Mackinders wartet immer noch auf ihre Eroberung: der geostrategische heilige Gral namens "Neue Weltordnung" (laut Brzeziński), unter US-amerikanischer Verwaltung.
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RT DE bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.
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